Der Staat Kapitel 1

Wien, eine Stadt. Die einzige Stadt, in der ich jemals war. Der einzige Ort, an dem ich jemals war. Alle meine Freunde, Verwandte leben hier.

Meine Familie und ich, Mama, Papa, ein älterer Bruder und ich, leben in einem weiß gestrichenen Reihenhaus in der sechsten Ringstraße. Mir gefällt es, so nahe am Zentrum zu wohnen. Es erlaubt meinen Freunden und mir, jeden Abend gemeinsam mit vielen anderen in ein kleines Restaurant mit Kegelbahn zu gehen und ein wenig die Sorgen des Alltags zu vergessen.

Mein Zimmer in unserer Wohnung ist zwar ganz nett, aber es ist dort irgendwie langweilig, es gibt nichts, womit ich mich beschäftigen könnte. Meinen Freunden ergeht es genau gleich.

Nur zum Schlafen, das ist die einzige Zeit, die ich zuhause verbringe, komme ich heim.

Auch heute falle ich wieder erschöpft, doch dem neuen Tag schon erwartungsvoll entgegensehend, in die Federn.

 

Ich stehe in einem schwarzen Raum. Geborgen kann ich unbekümmert schlafen.

"Kris, wach auf!", ruft meine Mutter so wie jeden Tag in dem gleichen freundlichen Tonfall wie immer von der Küche herüber.

Sofort hellwach stehe ich auf und werfe mich in meine schwarz-weiße Schuluniform. Stolz prangt das Wappen meiner Schule, eine graue siebenunddreißig, auf der rechten Brust.

Geschmacklos, aber nahrhaft rutscht mir das Müsli die Kehle runter.

Mein Vater und mein Bruder sind bereits außer Haus bei ihrer Arbeit.

Als nächstes Zähneputzen und dann noch die Schuhe anziehen.

"Hast du alles, was du brauchst?", möchte Mutter erinnernd wissen. Gerade öffne ich die Tür.

"Auf deinem Schreibtisch vielleicht?", deutet sie an.

"Danke", entgegne ich und eile schnell noch einmal kurz zurück, um es mir das Tablet unter den Arm zu klemmen. Darauf habe ich alles, was wir für die Schule brauchen. Unterrichtsmaterial, Aufgaben, Übungen,...

"Jetzt aber", melde ich mich fertig.

"Na dann, viel Spaß in der Schule", wünscht sie mir.

Synchron, wie jeden Morgen, treten meine Freunde aus den weißen Türen der angrenzenden Wohnungen auf den weiß gefliesten Gang.

"Morgen", grüße ich mit einem kurzen Nicken nach links und rechts.

"Morgen", kommt es simultan zurück.

Dann sind wir auch schon auf dem Weg, die weiße Fließentreppe hinunter zur Bushaltestelle.

Und wie es schon gestern, am Tag davor und all den Tagen vorher war, warten dort, meine Freunde und mich eingeschlossen, exakt dreiundzwanzig Personen. Wovon zwanzig Schüler und die restlichen drei Angestellte des Staates sind.

Zwei Minuten, nach dem wir uns hinzugestellt haben, ist der Bus noch immer nicht da. Dabei sollte er doch sofort kommen!?

Fragend blicken wir umher. Nicht minder verwirrt wirken die restlichen Menschen an der Haltestelle.

Zwei, drei drücken bereits ihren Irgendetwas-läuft-nicht-wie-es-soll-Notrufbutton, den jeder Bürger des Staates bekommt.

Einer der Schüler macht nach dem Drücken des Knopfes einen Schritt auf die Staatsangestellten zu. Doch auch diese scheinen keinen blassen Schimmer zu haben, wo der Bus bleibt...

Nach einem kurzen Anruf bei den Stadtwerken, erklärt einer der Staatsbediensteten:

"Offenbar liegt eine technische Panne beim regulären Bus vor. Der Ersatzbus hätte ihn eigentlich unverzüglich ersetzen sollen. Leider hat wohl irgendetwas nicht ganz funktioniert. Es besteht jedoch kein Grund zur Beunruhigung."

Das nervöse Trippeln meines Freundes Tobias hört auf.

"Nur eine technische Panne", wiederholt er tief durchatmend.

Ich kann seine Aufregung schon verstehen. Noch nie habe ich davon gehört, dass sich ein Bus verspätet hätte!

Fünf weitere Minuten vergehen, ohne dass der Bus in Sicht kommt. Auch ein neuerlicher Anruf bringt kein bisschen Gewissheit mehr.

"Was sollen wir jetzt tun?", hört man die umstehenden Schüler langsam verzweifeln:

"Wir müssen doch in die Schule kommen?"

"Könnte das irgendeine Art Übung sein", vernehme ich einen der Angestellten des Staates neben mir murmeln.

Sein Kollege verneint jedoch:

"Ich weiß von nichts. Außerdem, solch eine Übung existiert doch nur in den Theoriebüchern."

Auch in meinem Kopf steht alles Kopf.

Soetwas hat man uns nie in der Schule beigebracht...! Nie wurde uns erklärt, wie wir uns in so einem Fall zu verhalten hätten!...

Ratlos steige ich von einem Fuß auf den anderen.

Tobias hämmert wie wild auf seinen Irgendetwas-läuft-nicht-wie-es-soll-Notrufbutton, aber außer der Ansage einer weiblichen Computerstimme:

"Bitte bewahren sie die Ruhe, ihr Bus wird gleich ankommen", erhält er keine Reaktion.

Mein Freund Lukas tippt mir auf die Schulter:

"Hast du eine Ahnung, was wir jetzt tun sollen?"

"Nein",  gebe ich niedergeschlagen, irritiert und auch etwas angsterfüllt zurück.

"Aber wir müssen zur Schule!", drängt Lukas energisch.

"Dann erklär mir, wie!", fordere ich aufbrausend:

"Ich weiß doch auch nicht, wie!"

Ähnlich wie uns dreien, scheint es auch den Anderen zu gehen.

Plötzlich meldet sich einer der Staatsangestellten mit dem verrückten Vorschlag:

"Die Stadtwerke entschuldigen sich vielmals für alle Unannehmlichkeiten, und da das vorliegende Problem nicht auf die Schnelle zu lösen ist, wird man uns Karten auf unsere Smartphones oder Tablets schicken. Damit sollen wir, nur als Zwischenlösung für den Moment, zu Fuß zu unseren Arbeitsplätzen gehen."

Tatsächlich vibriert mein Tablet gerade jetzt in meiner Hand - eine Nachricht des Staates ist eingetroffen.

"Zu Fuß?!", kreischt irgendjemand.

Achselzuckend setzen sich die drei Angestellten des Staates in Bewegung.

Wiederwillig folgen alle ihrem Beispiel.

Kurz verweile ich noch, studiere die Karte auf meinem Display.

Just in diesem Moment höre ich von der Straße her ein Quietschen.

Irgendeine komische Art von Gefährt rast über den Asphalt.

Vier Räder, ein Motor. Im Prinzip ist es ein kleiner Bus.

Aber nicht so einer, wie die, in denen man im Fernsehen manches Mal Angestellte des Staates herumfahren sieht. Jene sind nämlich schön schwarz, lang und fahren nicht so schnell.

Dieses spezielle Exemplar hier ist so ziemlich das Gegenteil davon. Klein, schnell, reinweiß lackiert.

"Kris, wo bleibst du?", dreht sich Lukas nach mir um. Tobias hämmert beim Anblick des kleinen Busses schon wieder auf seinen Irgendetwas-läuft-nicht-wie-es-soll-Notrufbutton.

"Was zur Hölle ist denn das schon wieder?", jetzt hat auch der Rest der Menschen, die nun entgegen aller Vernunft zu Fuß aufgebrochen sind, das Gefährt bemerkt.

Und um die allgemeine Verwirrung perfekt zu machen, bremst es mit qualmenden Reifen direkt neben mir ab. Eine Tür springt auf, aus dem Inneren dringt eine freundliche, männliche Stimme, deren Besitzer eine Emotion hat, die ich nicht kenne. Er spricht schnell, undeutlich und aufgeregt:

"Steig ein Kris. Wir haben im Moment keine Zeit für Erklärungen, aber wenn du dein Leben weiterleben willst, rate ich dir, schnell einzusteigen."

Lukas tritt an mich heran:

"Lass das Kris. Das wäre ein sehr großer Fehler."

Ich persönlich weiß ja nicht so genau. Natürlich soll ich nicht in irgendein Gefährt steigen, dessen Herkunft, Fahrer oder Machart ich nicht kenne, andererseits hänge ich doch irgendwie sehr an meinem Leben...

 

Was also soll ich tun?

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