Der Staat Kapitel 2

Unsicher setze ich einen Schritt auf das Gefährt zu.

"Schnell!", drängt die Stimme aus dem Inneren. Durch die verdunkelten Scheiben kann ich nicht hineinsehen.

Irgendwie sagt mir ein komisches unbestimmbares Gefühl, ich sollte einsteigen. Alles andere, besonders mein Verstand hämmert jedoch dieses eine Wort in meinen Kopf: 'Nicht!'

Innerlich zerrissen stoppt mein Fuß, bevor er den Boden erneut berührt.

Neuerlich meldet sich der Mann aus dem Vehikel:

"Kris, ich meine es ernst!"

Er legt immer mehr Kraft in seine Stimme, dieser, mir unbekannte Tonfall verstärkt sich weiter.

Ich stelle meinen Fuß ab. Möchte zu einem weiteren Schritt ansetzen.

Woher kennt der meinen Namen?!?

Unbewusst setzte ich mich vollends in Bewegung.

Ich bekomme noch mit, wie einer der Staatsangestellten mich zurückreißt, dann erfüllt trommelfellzerstörendes Reifenquietschen die Atmosphäre.

Schwer lande ich mit dem Rücken auf dem Asphalt, bleibe diesig liegen.

Mit weit geöffneten Augen und Mund starren die Menschen den Davonrasenden hinterher.

Verarbeiten, ja nicht einmal realisieren kann es allem Anschein nach jemand.

Was um Alles in der Welt ist gerade passiert?!

Sogar den Angestellten des Staates überfordert die Situation vollkommen.

Unfähig irgendetwas Vernünftiges zu sagen, stottert er vollkommen aufgelöst und erschöpft in sein Telefon:

"Hilfe...sofortige Hilfe – benötigt...Vorfall...schlecht...Kinder - involviert..."

Tobias kann sich nicht mehr halten, wie ein Verrückter stürmt er die Bushaltestelle auf und ab, immer und immer wieder, mit jedem Mal schneller.

Lukas kommt allmählich wieder zu sich:

"Das, das war...? Was...war das gerade?", schluckt er schwer.

Ein weiterer Staatsangestellter kommt seinem Kollegen zu Hilfe:

"Hubert bringt gerade die Kinder weg. Wie geht es dir Franz?"

"Ähm...? Naja, mir fehlt eigentlich Nichts...", murmelt Franz und steht tapsig auf.

Lukas tritt an mich heran:

"Kris?"

Ich hebe den Kopf. Dann hält er mir die Hand hin, hilft mir aufzustehen.

"Danke", atme ich aus, blicke zu der Straßenecke, hinter der die zwei Gefährte mittlerweile verschwunden sind.

Jemand tippt mir auf die Schulter.

"Folgt Hubert, er bringt euch in die Schule", befiehlt Franz Lukas, Tobias und mir.

Willig folge ich Lukas mit Tobias im Schlepptau.

Kopfschüttelnd bleiben die zwei Angestellten des Staates zurück.

 

Schule. Ein Ort, zu Lernen. Ein Ort, dich auf das Leben vorzubereiten. Ein Ort, Hilfe zu bekommen. Ein Ort, Probleme zu vergessen. Ein Ort, sich wohlzufühlen.

Schule Nummer siebenunddreißig. Dritte Schulstufe, siebtes Gebäude, liegt zwischen dem sechsten und achten. Gegenüber liegen die Gebäude der zweiten Schulstufe mit denselben Nummern.

Vom Fenster meiner Klasse aus sehe ich den Sportplatz. Nur Wenigen ist es vergönnt, mehr als einmal pro Woche dort trainieren zu dürfen. Zu diesen Wenigen sehen wir alle auf, selbst wenn sie jünger sind als wir.

Sie werden einmal ein gutes, ehrvolles Leben führen sagt man uns. Das ist auch der Grund, wieso jeder immer so gut wie möglich bei der jährlichen medizinischen Untersuchung dastehen will. Denn nur die gesündesten, fittesten kommen in die Klassen, deren Kennzeichnung mit einem V endet.

Schule ist interessant, keine Frage, nur heute beschäftigt mich etwas Anderes einfach mehr. Die immer gleichen Bewegungen der V-Klasse dort unten, ihre Routine beruhigen mich irgendwie.

"Kris, du verhältst dich heute sehr seltsam", bemerkt meine Lehrerin:

"Bring ihn doch mal zur Schulärztin, Lukas."

"Sofort", beflissen erhebt sich jener unverzüglich, wartet an der Tür auf mich.

Wenigstens kann ich so etwas mehr Nachdenken und muss mich nicht simultan auf zwei Dinge konzentrieren.

Lange leere Gänge voller weißem Nichts und weißgeflieste Treppen führen uns ins Erdgeschoß von Gebäude acht.

"Ich werde hier auf dich warten", verkündet Lukas, als wir angekommen sind.

Abwesend klopfe ich an.

"Herein", bittet eine freundliche Damenstimme.

Hinter mir fällt die Tür sanft ins Schloss.

Stille hüllt den sterilweißen Raum in eine sanfte Decke der Heilung.

Lächelnd kommt die Ärztin mit klackernden Stöckelschuhen auf mich zu.

"Was kann ich für die tun?", möchte sie mütterlich erfahren.

Monoton in Gedanken versunken gebe ich zurück:

"Meine Lehrerin meinte, etwas stimme nicht mit mir. Ich bin von siebenunddreißig, 3B-Klasse."

"Na dann nimm bitte dort auf dem Stuhl Platz", fordert sie mich auf und deutet auf den weißen Stuhl gegenüber ihres Schreibtisches.

Stumm tue ich wie geheißen.

Sie kramt erst in einer Schublade herum, bringt einige Blätter Papier zum Vorschein, setzt sich dann auf den bequem wirkenden, weißen Ledersessel mir gegenüber und beginnt freundlich auffordernd lächelnd:

"Erzähl mir, was passiert ist."

"Heute Morgen ist der Bus nicht wie geplant gekommen, stattdessen ist so ein kleines, weißes Gefährt, in welchem vielleicht fünf Personen Platz haben, angerast. Der Fahrer meinte, mein Leben sei in Gefahr und ich solle unbedingt einsteigen, bevor es zu spät sei. Natürlich habe ich das nicht getan. Anschließend hat die Polizei den Mann in seinem Vehikel davongejagt. Zum Schluss sind wir dann zu Fuß zur Schule gegangen", erzähle ich gefühlslos.

Für einen Moment belegt überraschte Stille den Mund der Ärztin. Zwei Augenblicke später fängt sie sich wieder:

"Also noch einmal zum Mitschreiben: Der Bus ist nicht gekommen, ein Mann wollte, dass du zu ihm ins Auto steigst. Und die Polizei hat ihn dann verjagt?", will sie sich unsicher vergewissern.

Ein Auto ist das also, gut zu wissen. Ich habe solch ein Wort noch nie zuvor gehört...

"Genau."

"Gut", murmelt sie, ihr Stift fliegt über das Papier.

"Ist so etwas schon vorher geschehen?"

"Nein."

"Ist dir sonst etwas Seltsames wiederfahren? - Irgendetwas, das nicht geplant war?"

"Nein."

"Hm...", beendet sie die Fragen und dirigiert mich zum Sehtest. Anschließend checkt sie noch Ohren, Atmung und Herzschlag.

Alle Tests ergeben nichts Ungewöhnliches.

"Sieht so aus, als wäre mit dir alles in Ordnung", diagnostiziert die Ärztin:

"Du darfst gehen", entlässt sie mich.

Auf meinem Weg zur Tür höre ich hinter mir noch ein wenig Papierrascheln.

Plötzlich meldet sich die Dame noch einmal:

"Halt, warte noch kurz bitte." Offenbar hat sie noch etwas vergessen, was ich als sehr ungewöhnlich einstufe.

Stumm deutet sie, gezwungen ruhig, auf die weiße Liege.

"Bitte leg dich dort hin, schließe die Augen und entspanne dich."

Ich begebe mich also in Schlafposition.

Alles was sie tut, ist mir etwas ins Genick, genauer gesagt in etwa dorthin, wo der Schädel auf der Wirbelsäule aufliegt, zu kleben.

"Nicht erschrecken, das ist nur eine Elektrode. - Versuch jetzt an nichts zu denken."

Das ist leichter gesagt, als getan, wenn einem so viel durch den Kopf geht.

 

Ich stehe in einem schwarzen Raum. Nichts ist hier, was irgendwie interessant sein könnte. Nur schwarz. Unsicher bewege ich mich vorwärts. So vieles, das ist nicht verstehe, das Schwarz verschluckt alles.

Jemand tippt mir auf die Schulter.

Unfähig den Ausdruck des Gesichtes der Ärztin zu deuten, richte ich mich auf.

Sie starrt unentwegt auf einen kleinen Bildschirm auf dem eine Kurve eingeblendet wird. Ruhig lastet ihr linker Zeigefinger auf einem Bereich, welcher sich insofern vom Rest des Graphen unterscheidet, dass hier ein Ausschlag, wenn auch kein besonders großer, zu sehen ist.

"Hat das etwas zu bedeuten?", will ich erfahren.

Tief durchatmend gibt sie zurück:

"Es bedeutet wohl, dass du von nun an die V-Klasse besuchen wirst – zumindest vorübergehend bis wir Zeit haben, eine weitere Untersuchung durchzuführen."

"Na das ist doch ein Grund zur Freude", bemerke ich in entsprechender Stimmung. Die V-Klasse!

"Ab sofort?", vergewissere ich mich.

"Nicht so eilig", lacht sie auf:

"Ich muss zuerst noch zum Direktor."

Schnell fertigt sie noch einen Ausdruck des Graphen an und schon sind es wieder die endlos langen Gänge. Lukas wird von der Ärztin mit einer Handbewegung zurück in seine Klasse geschickt.

Zurück in Gebäude Nummer sieben der dritten Schulstufe warte ich eine halbe Ewigkeit auf einem harten Holzsessel vor der schwarzen Tür mit der weißen Aufschrift: 'Direktor'.

Nach einer geschätzten halben Stunde kommen Direktor und Ärztin endlich wieder aus. Der beleibte Mann mittleren Alters verkündet:

"Kris, die Sache sieht wie folgt aus: offensichtlich wurde es bei der letzten medizinischen Untersuchung übersehen, denn so wie es im Moment aussieht, bist du für die V-Klasse geeignet. Um ganz sicher gehen zu können, müssen wir aber noch das Ergebnis eines weiteren Tests abwarten. Dieser wird morgen Früh hier in der Schule stattfinden. Melde dich um acht Uhr bei der Schulärztin. Bis dahin darfst du nun entweder in die Schulbücherei gehen, um dich auf die Wahrscheinlichkeit eines Besuches der V-Klasse vorzubereiten, oder du gehst direkt in den Unterricht der V-Klasse."

Hm. Die V-Klasse hat das höchste Leistungspensum von allen, ein wenig Vorbereitung könnte also nicht schaden. Doch wieso warten, wenn man etwas auch sofort haben kann?

Lasse ich die Vernunft siegen, oder meinen Impuls?

 

Was wird mich in der V-Klasse erwarten?

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