Der Staat Kapitel 4

In diesem Moment tippt mir von hinten jemand auf die Schulter.

"Hallo Kris. Wir hatten heute Morgen keine Zeit, miteinander zu reden. Wenn ich dich nun bitten dürfte, mir zu folgen, dann könnten wir unser unterbrochenes Gespräch fortsetzten", fordert er mich höflich auf.

"Wieso sollte ich?", entgegne ich instinktiv. In meinem Kopf dreht sich alles.

"Das werde ich dir alles erklären. Hier ist nur nicht der richtige Ort dafür", schnell dreht er seinen Kopf herum, so als würde er nach etwas suchen.

"Ich muss nach Hause", blocke ich ab.

"Dort kann ich dich auch hinbringen", sein Kopf fährt hoch :

"Hast du meine Worte von heute Morgen vergessen?"

"Nein...", betone ich lange und unsicher.

"Dann folge mir", meint er knapp.

Er führt mich durch die Menschenmenge. Hinfort von der Schule.

Hinter einer Ecke in einer Seitengasse öffnet der Mann ein Tor. Dahinter kommt das Auto hervor, in dem ich ihn schon heute Früh angetroffen habe.

"Bitte einzusteigen", hält er mich an, öffnet mir die Tür.

Kaum habe ich Platz genommen werde ich auch schon in den weichen Sitz direkt neben dem Fahrer gedrückt.

Der Mann neben tritt eines der Pedale bis zum Boden durch.

Was mache ich da eigentlich gerade?

Lange habe ich nicht, darüber nachzudenken.

Heulend, mit einem blauen Blinklicht auf dem Dach und blauen Streifen auf den ansonsten reinweißen Seiten, rast ein weiteres Auto hinter uns um die Ecke. Der einzige Unterschied zu jenem, in dem ich sitze ist, dass der Neuankömmling mit der Sirene so etwas wie eine metallisch verstärke Front besitzt.

Noch tiefer werde ich in den Sitz gedrückt. In diesem Vehikel steckt mehr, als die Größe vermuten lässt.

Grimmig wirft der Mann hinter dem Steuerrad einen Blick in den Rückspiegel und rät mir:

"Schnall dich besser an."

Hä?

"Nimm dir den Gurt rechts von dir und klinke ihn in die rote Halterung links von deinem Sitz", erklärt der Fahrer mit zusammengebissenen Zähnen, als wir gerade um eine Kurve rasen. Hart pralle ich gegen das Plastik und Glas der Tür. Diese Prellung wird mich eine Weile begleiten...

Endlich bringe ich zustande, was für den unbekannten Mann neben mir selbstverständlich zu sein scheint. Der 'Gurt' klickt, rastet ein.

In dieser Kurve ergeht es mir besser.

Alles in meinem Kopf schreit: 'Lass den Blödsinn Kris!'

"Was soll das alles?", will ich nun endlich erfahren.

"Kris, lass es mich kurz machen: Träumst du?"

Träumen?

"Was bedeutet den 'Träumen'?"

Tief schnauft der Mann durch.

"Wenn du schläfst, siehst du dann etwas?"

"Während ich schlafe!?", wundere ich mich. Da habe ich meine Augen doch geschlossen...?

Wieder muss er tief Luft holen.

Die nächste Kurve.

"Also nichts?", will er sich vergewissern.

"Schwarz, mehr ist da nicht", antworte ich wahrheitsgemäß.

Brummig murmelt der Fahrer:

"Na das ist doch schon mal etwas..."

Mein Blick fällt auf den Rückspiegel. Hinter uns ist niemand mehr.

Das scheint so etwas wie das Signal zu sein, anzuhalten.

Etwa eine halbe Minute später kommen wir in einem dunklen Raum zu stehen.

Noch nie in meinem Leben ist mir so viel gleichzeitig durch den Kopf gegangen, noch nie zuvor habe ich so schnell geatmet, noch nie zuvor hatte ich so viele Fragen.

"Also, was soll das nun alles? Und wer sind Sie überhaupt?", nehme ich einen zweiten Anlauf:

"Und wieso ist mein Leben in Gefahr?"

Seelenruhig steigt der Mann aus und betätig den Lichtschalter.

Jetzt habe ich endlich Gelegenheit, ihn mir genauer anzusehen.

Ungefähr dreißig, braune, wild herumstehende Haare, kein Bart, blau-grüne Augen. Gekleidet ist er in einen einfachen schwarzen Anzug.

"Lass mich mit meinem Namen beginnen. Ich bin Naan. Zweitens, dein Leben. Wenn du nicht jetzt anfängst, zu leben, wirst du nie eines haben. Drittens, wieso du auf mich getroffen bist? Eigentlich nur, damit du beginnst, zu sehen, wer und was du bist."

Hä? Was will dieser Kerl von mir? Sagt mir, mein Leben sei in Gefahr und kommt mir jetzt mit: 'Beginne zu leben, oder du wirst nie eines haben..."

"Kann es sein, dass ich gerade etwas verpasst habe?", frage ich ihn, versuche zu signalisieren, dass ich von dieser Aussage nichts halte.

"Fühle dich frei, zu gehen wohin auch immer es dich verschlagen mag. Lass mich dir zuvor nur diesen einen Satz mitgeben: 'Höre in dich hinein, finde heraus, warum du mich getroffen hast und du wirst verstehen.' – So, da du augenscheinlich keine Lust hast, länger zu bleiben, geh wenn du willst. Ich mach mir jetzt auf jeden Fall einmal einen guten, kräftigen Tee." Er verschwindet durch eine weiße Tür.

Ich wünschte, ich wäre jetzt in der Schule, dort bekommt man es nämlich erklärt, wenn sie einem etwas Neues beibringen...

Gefühle, die ich noch nie fühlte, machen sich in mir breit. Mein Atem geht schneller, schnell schlägt das Herz in meiner Brust, in meinem Kopf ist kein klarer Gedanke mehr zu fassen.

Alles was ich will, ist zurück, dorthin, wo ich hin muss.

Erschöpfung übermannt mich. Schwer sinke ich an die Wand des Raumes, strecke meine Beine unter das Gefährt.

Nachdenklich drehe ich den Irgendetwas-ist-nicht-so-wie-es-sein-soll-Button in meiner Hand. Durch wässrige Augen - wieso kommt Wasser aus meinen Augen? – starre ich das rote Rufzeichen auf dem ansonsten weißen, kleinen Gerät an, so als wollte ich alleine dadurch den Knopf betätigen.

Ich will doch nur zurück dorthin, wo ich hin muss.

"Wieso", murmle ich halblaut.

Naan seufzt in einem Nebenraum. Man hört das Geklapper von Teetassen, dann kommt er mit zwei dampfenden zu mir, setzt sich ebenfalls auf den Boden und hält mir eine hin.

Instinktiv nehme ich sie an, nippe vorsichtig an dem brennend heißen Früchtetee.

Mein undurchsichtiger neuer 'Freund' setzt an:

"Panik ist ein gutes Signal. Sie haben dich noch nicht genug gegraut..."

"Äh...'Panik'? 'gegraut'?", hebe ich die Augenbrauen.

"Du atmest schneller, dein Puls erhöht sich, du schwitzt, dein Fokus auf nichts als dem Wunsch, heimzukehren in die vertraute Sicherheit - das nennt man Panik. Eines von vielen Gefühlen, die man aus der Gesellschaft gegraut hat. Sie wurden durch all die Regeln, die Routine, die vollkommene Sicherheit einfach vergessen. – Dabei ist es nicht einmal so lange her, dass es anders war."

"Aha", murmle ich. Die gleichmäßige Hitze und der kräftige Geschmack des Tees beruhigen mich.

"Nicht so lange her...", wiederhole ich leise. Ja, so lange ist es her, dass mein Leben noch ganz normal war.

Naan wechselt das Thema:

"Wie siehst du den Staat?"

"Keine Ahnung... Sie lassen mich in die Schule gehen, geben meiner Familie und mir eine Wohnung,..." Worauf will er hinaus?

"Nein, ich meine, was machen sie?"

"Wer, die Angestellten des Staates? Ich sehe sie nur jedem Morgen an der Bushaltestelle und an jedem Abend im Lokal mit der Kegelbahn..."

Stille, lange, unerträgliche Totenstille.

Stumm trinken wir unseren Tee.

Naan versinkt in vollkommener Nachdenklichkeit, seine Augen starren ins weiße Nichts der Tür seines Autos. Die Minuten vergehen.

"Willst du wissen, was geschehen ist?", erwacht er aus diesem komischen Zustand.

"Wann?", wundere ich mich.

"Damals - bevor alles weiß in grau in schwarz geworden ist?"

"War die Welt den jemals anders?", wundere ich mich.

In Gedanken versunken meint er:

"Komisch. Damals wollte jeder eine Welt, die so ist, wie diese, und nun ist jeder zufrieden. Zumindest alle, die das Glück haben, im Staatsgebiet zu leben."

"Soll das gerade heißen, dass es mehr als nur den Staat gibt?!", fahre ich hoch. Dass dieser Kerl im Kopf nicht ganz richtig ist, war mir schon irgendwie klar, doch das?!

'Der Staat, der Eine und Einzige.
Hier ist euer Glück, hier ist eure Zukunft.
Gemeinsam für alle, alle für die Gemeinsamkeit!', hallt es in meinem Kopf immer und immer wieder nach.

So und nicht anders ist es.

"Wo ist die Tür?", fordere ich ihn rüde auf, mich nicht länger zu belästigen. Spinner!

"Kris reiß dich zusammen!", befiehlt Naan mir. Er betont meinen Namen ganz besonders.

"Kris, das ist dein Name. Naan, das ist meiner. Eines haben beide gemeinsam: Sie sind ungewöhnlich", startet er, auf mich einzureden:

"Das hat einen Grund: Sie kennzeichnen uns."

"Würdest du endlich mit deinem Gerede aufhören und mich hinauslassen?!", übergehe ich alle seine Worte ohne Gnade.
"Du willst wissen, warum du mir begegnet bist?"

"NEIN!", fahre ich ihn an, stürme an ihm vorbei in den Nebenraum, durch eine kleine Küche, eine Wohnung in der offenbar nichts seien Platz hat, wie eigentlich vorgesehen.

Aus dem Augenwinkel erfasse ich die Tür, welche mich auf die Straße führen wird.

Weg, nur weg von diesem Spinner.

 

Kurz überlege ich noch: Soll ich den Irgendetwas-ist-nicht-so-wie-es-sein-soll-Button drücken?

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