Der Staat Kapitel 10

Dann ergreift er meine Hand. Je fester er zugreift, desto stärker wird das Lächeln auf seinem Gesicht. Am Ende stehen wir einander gegenüber, uns freudig in die Augen schauend und des jeweils anderen Hand zusammendrückend. Naja, eigentlich wird meine regelrecht zerquetscht und seine vielleicht ein wenig massiert...

"Milet", stellt er sich vor.

"Kris", antworte ich, mir die rechte Hand reibend.

"Du bist also derjenige, der unserem Großen Boss ein Lob entlocken konnte. Ja sogar seinen Feuer-Tunnel-Test absolviert hat und ihn so sehr überzeugt hat, dass er keine weiteren Test mehr durchzuführen gedachte", bemerkt Milet grinsend, nicht ohne die Spur Bewunderung in seiner Stimme zu kaschieren zu versuchen.

"Offenbar", gebe ich wirklich bescheiden zurück:

"Aber ich glaube nicht, dass ich tatsächlich so etwas Besonderes bin. Schließlich, wer bin ich schon? – Ja, ich habe die Aufnahmeprüfung für die V-Klasse bestanden, doch bin ich deshalb etwas so Außergewöhnliches unter den V-Klässlern?"

Überrascht zieht Milet die Augenbrauen hoch:

"Bitte was?", er lacht auf:

"Kris – du...hast es geschafft, unseren Großen Boss zu beeindrucken – Und das OHNE Training. Etwas, von dem alle hier bis zum heutigen Tage träumen. Ja, du hast sogar nicht nur beeindruckt. Er – hat dich – gelobt!", widerspricht er mir vollkommen ungläubig.

"Das kann doch nicht sein. Ich war doch noch niemals hier. Ich habe noch nie trainiert. Ich habe auch noch nie irgendwann einmal von einem dieser Tests gehört. Wie kann es das sein, dass ich der Beste von allen bisher bin?", gebe ich verwirrt fragend zurück.

Milet blickt mir tief in die Augen:

"Kris - alleine dein Name sagt schon vieles aus. Ich meine, schau dich um. Jeder hier hat irgendeinen 'besonderen' Namen, so ist es einfach. Aber der Name 'Kris' ist weder wirklich besonders, noch ist er so richtig gewöhnlich – er ist auf eine andere Art 'besonders', nicht besonders auffällig, mehr frei nach dem Motto: 'Achtung-hier-komme-ich'. Du fällst also schon einmal durch deinen Namen aus dem Muster. Zweitens, es ist so ungefähr das allererste Mal, dass so mir nichts dir nichts ein Schüler aus der 11. Klasse einfach in die V-Klasse kommt. Die meisten hier, sind es seit der Klasse. Bei uns war es von Anfang an klar, was wir einmal sein werden. Du aber, du kommst einfach so daher. Unscheinbar, vollkommen gewöhnlich, kommst in einem gepanzerten Militärfahrzeug durch den Eingang gefahren, denkst kein zweites Mal nach bei deiner Antwort auf die Frage des Videos und schaffst es, den Großen Boss während des Feuer-Tunnel-Testes dermaßen zu beeindrucken, dass er alle weiteren ohne Umschweife abbläst. Ich meine, wenn das mal nicht außergewöhnlich ist."

Natürlich haben manche der anderen V-Klässler mitgehört, so meldet sich nun einer mit strohblonden Haaren und stahlgrauen Augen von weiter hinten belustigt und mir gegenüber respektvoll:

"Und drittens, du hast Milet zu einer Unterhaltung gebracht." Bekleidet ist dieser Blondschopf mit einer kurzen Trainingshose und einem Oberteil, das die Muskeln seiner Oberarme nicht der Fantasie des Betrachters überlässt.

Bissig bekommt er vom Angesprochenen zurück:

"Ach, halt doch die Klappe, Aran."

"Oh, Milet beachtet mich", macht er überrascht. Arans Umstehende fallen in sein Gelächter ein.

Mein neuer Freund wendet sich mir mit dem Rat zu:

"Hör nicht auf Aran. Er meint, er wäre der Größte, weil sein Vater der Befehlshaber des V-Kommandos ist, aber alles, was er gut kann, ist es, Schlägen auszuweichen, ein paar Gewichte zu stemmen, seine Kraft zur Schau zu stellen und blöde Bemerkungen auszuteilen. – Also ein Musterbeispiel des Angebers."

"Hm", brumme ich. So viel Negatives an einem Tag. Wie halten die V-Klässler das nur aus? Es ist mir zum Glück erst einmal – mit jetzt gerade zweimal – geschehen, dass ich einen Streit zwischen zwei Schülern miterleben musste. Eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichten kann.

Milet fordert mich auf:

"Hier, das Laufband neben mir ist frei. Mal sehen, wie weit du an deinem ersten Tag kommst. Und nicht vergessen, langsam anfangen und immer schön daran denken, Nase einatmen, Mund ausatmen."

"Okay", meine ich unsicher und stelle mich neben Milet gleich auf das 'Laufband'. Skeptisch betrachte ich die Anzeige vor mir. 0 km/h. Okay, schnell bin ich schon mal nicht.

Wie schalte ich das ein? Gerade in dem Moment, als ich mit den Augen die Geschwindigkeitsanzeige vor mir fixiere und meine Hände auf die Armstützen lege, meldet sich eine freundliche, monotone Frauenstimme aus dem Ohrstöpsel, welchen ich ja offenbar nicht mehr abnehmen soll.

"Laufband erkannt. Geschwindigkeit wird auf 'Anfänger'-Level eingestellt. – Sie können nun loslaufen."

Tatsächlich, das Band setzt sich in Bewegung und ich muss anfangen, meine Beine zu heben, wenn ich nicht am hinteren Ende hinuntergeworfen werden will.

Hm, das geht doch recht gut. 10 km/h, ein feines Tempo. Mund aus, Nase ein. Mund aus, Nase ein. "Nicht aus dem Rhythmus fallen und den Blick immer gerade nach vorne halten", erklärt Milet weiter.

Allmählich spüre ich, dass ich noch nie wirklich Sport gemacht habe. Meine Atmung beschleunigt sich. Mund aus, Nase ein.

Mit jedem Schritt sinkt mein Kopf weiter Richtung Boden.

"Halte die Arme immer schön am Körper und die Wirbelsäule maximal nur leicht nach vorne gebeugt", korrigiert Milet meine Haltung.

Fest und laut stampfen meine Beine auf das Laufband.

"Versuch, die Füße beim Auftreten jedes Mal schön abzurollen. Das spart Kraft und ist auch weit weniger laut", rät er mir.

"Ich...werd's versuchen", keuche ich zurück. Schnappe einmal hörbar nach Luft.

"Und nicht vergessen: Nase xein, Mund xaus." Er zwinkert mir zu.

Stumm, die Erschöpfung bereits jetzt – das Laufband zeigt mir gerade einmal zwei Kilometer an, während jenes von Milet schon über die zwanzig hinaus ist – ins Gesicht geschrieben, nicke ich.

"Na, na, werden wir etwa schon müde?", schnarrt Arans Stimme von den Gewichthebern herüber. Gerade eben stemmt er eines hoch, bei dem sogar er mit seinen Muskeln kämpfen muss. Schlussendlich streckt er mit einem unterdrückten Knurren dann doch die Arme durch.

'Nicht auf ihn hören', wiederhole ich in Gedanken Milets Worte:

'Er kann nicht mehr als Gewichte stemmen und blöde Bemerkungen austeilen.'

Aran stellt seine Hantel beiseite und steht auf.

"Milet, komm schon. Ist das dein Ernst? Wie lange willst du ihn noch da so laufen lassen?", bemerkt er vorwurfsvoll grinsend, so als würde er versuchen, ihn und mich lächerlich zu machen. Gelassen schlendert er in unsere Richtung.

Unüberhörbar für alle Umstehenden in Umkreis von gut zwanzig Metern raunt er mir in einem freundlichen Tonfall, als würde er es tatsächlich ernst meinen, zu:

"Willst du dich wirklich mit diesem Looser, der den ganzen Tag nichts anderes macht, als auf diesem lächerlichen Gerät zu laufen, abgeben? Oder schließt du dich lieber den coolen Jungs an und zeigst der Welt, was du kannst? Komm schon, runter von diesem Laufband. Zeig uns, aus was für einem Holz du geschnitzt bist." Er wendet sich ab, macht einige Schritte von mir weg, dreht sich noch einmal um und endet mit:

"Du hast zehn Minuten, dann dürfen wir nämlich Bereiche wechseln. Bis dahin hast du Zeit." Er streckt die Arme von sich, dreht sich einmal langsam im Kreis, während er mich siegessicher lächelnd vor die Wahl stellt:

"Entscheide dich, wir, oder der da."

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