Der Staat Kapitel 11

Sagen wir einmal so: Sympathisch war mir dieser Aran schon von Beginn an überhaupt und schon gar nicht. Zu meinem und Milets Leidwesen, zu seinem Vorteil scheinen dies viele andere V-Klässler – vor allem einige der Mädchen – recht genau gegenteilig zu sehen.

Was mich persönlich sehr verwundert, denn mir hat man immer erklärt, wir müssten alle zu jeder Zeit zusammenhalten, einander unterstützen und in keinem Fall den Freund, Mitschüler, Mitbürger irgendwie beleidigen, geschweige denn, ihr oder ihm offen drohen!

Heißt es nicht:

' Der Staat, der Eine und Einzige.

Hier ist unser Glück, hier ist unsere Zukunft.

Gemeinsam für alle, alle für die Gemeinsamkeit!'

Gemeinsam für alle, alle für die Gemeinsamkeit...besonders diese letzte Zeile des Grundsatzes des Staates hat mir immer sehr zugesagt. Und nun verstößt Aran ausgerechnet, vor allem gegenüber einem neuen Mitschüler, eiskalt, ohne zu zögern gegen diesen.

Erschöpfung macht sich so langsam wirklich in mir breit. Gerade in dem Moment, als ich von selbst vom Laufband herabsteigen will, meldet sich diese Computerlady aus meinem Ohrstöpsel:

"Bitte legen Sie eine Pause ein. Vorsicht, Laufband wird nun abgestellt."

Keuchend lasse ich mich auf eine lackierte Metallbank hinter dem Band fallen, nehme mir meine Zeit, um kräftig durchzuschnaufen, meinen Atem und Puls sich beruhigen, meinen Kopf hängen lassend.

Milet wirft einen knappen Blick auf das langsam verblassende Display meines Laufbandes und meint bewundernd weiterlaufend:

"Knappe dreieinhalb Kilometer, das ist sehr gut für den Anfang."

Natürlich, wie sollte es auch anders sein, hat auch Aran bemerkt, dass ich die Übung beendet habe. Mit nur einem knappen, verächtlichen Blick, einem seitlichen Heben des Kinns und einem unausgesprochenen: 'Schwächling', quittiert er es, wendet sich zurück, seinen Hanteln zu.

Was ist los mit ihm? Falsch gemacht habe ich nichts, soweit bin ich mir im Klaren. Aber was bringt ihn dann dazu, mich so zu behandeln? Ich meine, es kommt mir so vor, als hätte er überhaupt nichts von dem, was einem in der Schule beigebracht wird?

Bevor ich meinen Gedanken weiter nachgehen kann, erschallt ein elektronischer Gong. Junos tritt aus einer Seitentür der Halle, verkündet mit kräftiger Stimme:

"Pause! Jeder von euch schnappt sich jetzt etwas zu essen, dann bekommt ihr die Einteilung für die zweite Hälfte. - Ach übrigens, heute gibt es zuerst Speckknödelsuppe, dann Nudeln mit Gemüse und zum Schluss ein Stück Ananas für jeden."

Erfreut über das Wort 'Essen', macht sich die Turnhalle auf zu Junos in Richtung Tür, hinter welcher ich lange Tischreihen zu erkennen vermute.

Milet klopft mir auf die Schulter, trocknet sich den Schweiß mit einem Handtuch ab und meint:

"Los komm mit."

Nicht minder hungrig, wie auch der Rest zu sein scheint, doch ein gutes Stück erschöpfter, folge ich ihrem und Milets Beispiel. Durch eine breite Doppelflügeltür betreten wir die Kantine. Ein weiter, langgezogener Raum, durch und durch mit schmalen Metallbänken und –tischen möbliert, komplett in einer Mischung aus Grau und Weiß gehalten, zeigt sich mir. An einer Wand bilden sich mehrere lange Schlangen bis zu einer breiten Küchenfront, an der jeder ein Tablett mit seinem Essen darauf überreicht bekommt und sich anschließend einen freien Platz sucht.

"Schnell, die Schlange wird immer länger", murmelt mir Milet zu, zieht mich energisch hinter sich her zur noch kürzesten.

"Wer sein Essen zu spät bekommt, hat hinterher weniger Zeit, es aufzuessen", raunt er mir ins Ohr.

Wie ich schon vorhin sehr treffend bemerkt habe, irgendetwas ist hier einfach vollkommen anders, als ich es gewohnt bin. Falsch. Nicht richtig. Unfreundlich. - Gnadenlos?

Zum Glück geht es in der Wartelinie flüssig voran, sodass auch ich bald mit dem angekündigten Essen sowie etwa einem Liter lauwarmer, hellroter Flüssigkeit in einer Plastikflasche auf meinem Tablett, mich Milet hinterher durch die Menschenmengen schlängle zu einem Tisch in der hinteren Ecke.

An seinem äußerst rechten Rand nehmen wir einander gegenüber Platz. Die nächsten Schüler lassen einen guten halben Meter Freiraum zwischen ihnen und uns, während an den restlichen Tischen alle direkt nebeneinander hocken...

Irgendwie...

"Hey, ihr dürft euch ruhig neben mich setzten", fordere ich den Jungen links von mir auf.

"Ähm", druckst dieser herum, haucht dann, für Milet nicht hörbar:

"Es...ahm, bist nicht du", und wirft einen Blick in Richtung meines Freundes.

"Aber...", setzte ich an, werde doch abrupt von einem scharfen Blick des Jungen gestoppt. Milet blickt auf. Rasch, so als wäre nichts gewesen, wendet sich jener neben mir erneut seinem Essen zu. Mein Gegenüber schüttelt nur kalt und abweisend den Kopf, senkt ihn ohne Kommentar wieder.

Ich fühle mich wie zwischen zwei Stahlplatten eingequetscht. Etwas, das ich noch nie gefühlt habe – und zukünftig auch äußerst gerne vermeiden würde.

Während ich so dasitze, meine Nudeln kleinschnippsle, mein Gemüse aufspieße, blinkt plötzlich im rechten, oberen Eck meines Blickfeldes ein kurzer Text auf:

'Nächste Trainingseinheit: Verteidigung.' Erschrocken fahre ich hoch. Wo kommt der Text auf einmal her?

Oh, die Linse...atme ich auf.

'Halte dich an Aran.'

So, so. Wer auch immer diese Dinger also steuert, möchte mich in der 'Verteidigung' zusammen mit Aran sehen. Schwermütig atme ich durch. Sieht so aus, als ließe es sich jetzt nicht mehr vermeiden...

Ein weiteres Mal läutet der Gong.

Das scheint dann auch schon das Zeichen zu sein, dass es weitergeht. Zumindest erheben sich auf einen Schlag alle V-Klässler und gehen wieder ihrer Wege.

Milet blickt mir in die Augen:

"Und, wo schicken sie dich hin?"

"Verteidigung", gebe ich knapp zurück, füge murmelnd hinzu:

"Zusammen mit Aran..."

Stumm nimmt Milet das zur Kenntnis.

"Na dann sehen wir uns später", meint er nur abwesend, so als würde er die Welt gar nicht wahrnehmen, sondern irgendetwas anderes sehen - nicht mich vor sich.

"Hm", verabschiede ich mich zu Boden blickend.

Und wie war es anders zu erwarten? Aran schlendert auf mich zu:

"So kommen wir doch noch einmal zusammen, Kris."

"Scheint so", nuschle ich mit gesenktem Blick. Wieso muss ich mich ausgerechnet mit so einem Kerl abgeben?!? Könnte ich nicht einfach mit jemand anderem, zum Beispiel dem Jungen, der neben mir beim Essen gesessen hat, trainieren?

"Komm schon Kris, sonst kommen wir noch zu spät", fordert Aran mich freundlich, doch mit einem undefinierbaren Unterton – Vorfreude? – und einem leicht aufgesetzt, falsch wirkenden Lächeln im Gesicht auf. So füge ich mich.

Zu meiner Verwunderung verlassen wir die Kantine nicht durch die Tür, durch welche wir gekommen sind, sondern, gemeinsam mit etwa fünfzig anderen Schülern, durch eine, die auf der gegenüberliegenden Seite liegt.

"Willkommen im Dojo!", begrüßt Aran mich theatralisch.

Diese Halle ist kleiner als die erste, doch genauso weiß ausgemalt. Ihr Boden ist durchwegs schwarz gepolstert, nur am Rand, auf der Seite des Einganges, gibt es einen schmalen Bereich mit festem Untergrund.

Und genau von dort tritt ein Mann in einer reinschwarzen Uniform an uns heran. Seine rechte Brust ziert die Aufschrift 'V-Kommando' und darunter 'Kommandant'. Vom Aussehen her ähnelt er Aran, bis auf das Alter – ich schätze ihn auf etwas über vierzig - nahezu bis zum kleinsten Haar – gut, die zeigen schon leichte Grauansätze bei ihm... Der einzige Unterschied, seine Augen zeigen eine Spur mehr Blau, als Arans.

Welcher uns einander nun stolz bekannt macht:

"Kris, darf ich dir meinen Vater, Carik, vorstellen?"

Ein freundliches, einladendes, weitaus sympathischeres als das von Aran, Lächeln macht sich auf seinem Gesicht breit, als er mit einer tiefen, doch beruhigend sonoren Stimme nachfragt:

"Der Kris?", mir gleichzeitig seine Hand hinhält.

Höflich, nicht genau wissend, was ich von der Situation halten soll, ergreife ich sie.

 

Okay, nochmal ganz langsam. Was geht hier vor sich? Und die wohl größere Frage: Was um alles in der Welt wird jetzt geschehen?

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