Der Staat Kapitel 14

"Ruhig", beschwört er mich, tritt aus dem Schatten, lässt sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder.

"Sagen wir einmal so: Das, was ich dir erzählen werde, sollte nicht von anderen gehört werden. – Noch nicht."

Fürs Erste lasse ich ihn sein Ding tun, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre hinauf auf meine kahle, nächtlich graue Zimmerdecke.

Im Wissen, meine Aufmerksamkeit zu haben, beginnt Naan:

"Kris, ich habe schon einmal versucht, es dir zu erzählen. Und bitte, diesmal hör einfach zu, auch wenn es klingen mag, als wäre ich verrückt, gestört und alles Mögliche andere." Einmal holt er noch tief Luft.

"Der Staat in dem du lebst, ist einer von vielen auf dieser Erde. Einst gab es viele, viele verschiedene Länder und Völker. Wenn sie vielleicht nicht immer gut miteinander ausgekommen sind, war es doch eine Freude, ihnen allen zuzusehen. Damals konnte man gehen, wohin man wollte, tun, was man wollte, sein, wer man wollte. Und jeder dieser unzähligen Menschen war etwas ganz Besonderes und Einzigartiges für sich. Doch dann, an einem Tag vor zweiundfünfzig Jahren änderte sich all dies."

Meiner Schätzung nach, hat Naan also diese Zeit, von der er da redet, nicht miterlebt.

"Woher weißt du dann, wie es war, wenn du nicht dabei warst?", unterbreche ich.

"Mein Vater war dabei. Meine Mutter war dabei. Sie haben mir Geschichten erzählt. Mir Bilder und Bücher von früher gezeigt."

"Und wo sind diese Bilder?", hake ich nach.

"Du willst sie sehen?", freut sich Naan über mein Interesse – zumindest mein vermeintliches.

"Ja." Als ob seine Geschichte stimmen würde...

"Gut. Du hast nichts dagegen, wenn ich mir kurz dein Tablet leihe?"

"Mach einfach." Alles, was er tut, ist, einen USB-Stick aus seiner Tasche zu holen und ihn in das Tablet zu stecken.

"Hier", dreht er mir den Bildschirm zu. Ich hocke mich auf.

Menschen. Unzählige von ihnen. Sie lachen alle. Farben. Mehr als ich zählen könnte. Kaum schwarz. Kaum grau. Kaum weiß. Autos. Formen. Häuser. Und Dinge, die ich noch nie gesehen habe.

Ein Ort, der nicht existieren kann.

In der rechten unteren Ecke des Fotos lese ich in weißen Buchstaben: '14.7.2013'

"Das war in Rom – einer Stadt südlich von hier, vor 54 Jahren", kommentiert Naan.

"Rom. Davon habe ich schon einmal gehört. Ein Angestellter des Staates meinte einmal, es wäre der widerlichste Ort, den er jemals gesehen hat."

Naan seufzt:

"Damit könnte er jetzt sogar Recht haben...", schweift nicht weiter aus und geht über zum nächsten Bild.

"Das ist eines der letzten, vor dem siebten September 2015. Es zeigt meinen Vater als Kind."

Ein lachendes Kindergesicht. Der Junge ist nicht älter als zehn. Im Hintergrund sehe ich viel Grün.

"Und so soll die Welt einmal ausgesehen haben? Bunt und ungeordnet? Warum sollte sie jemals so gewesen sein?", kommentiere ich kühl.

"Bitte, lass mich zu Ende erzählen, dann beantworte ich deine Fragen, okay? – Gut. Also, die Erde war ein Ort, an dem jeder frei in seinen Gedanken und Handlungen war. Die Menschen haben es damals vielleicht verkannt, aber es war die schönste Zeit, zu der man hier sein hätte können. Jedoch gab es auch viele, die der Meinung waren, die Welt müsse sich ändern. An diesem siebten September des Jahres 2015 – also vor zweiundfünfzig Jahren – nahm es seinen Lauf. Erdöl, ein archaischer Energieträger war zu dieser Zeit ihre wertvollste Energiequelle. Und um ihre Ziele zu erreichen, schlugen jene, die die Welt erneuern wollten, genau dort zu. In dem Chaos, welches darauf folgte, lösten sich die ehemaligen Länder der Erde auf. Viele Menschen überlebten diese Zeit nicht. Doch jene, die es schafften, gründeten, nachdem sie diese 'Welterneuerer' – 'Vermummte' wie sie mein Vater nannte - besiegt hatten, die Staaten von heute. Es war ein gutes Unterfangen, all jene, von der Katastrophe gezeichneten, waren froh über Ordnung, Regeln, Sicherheit nach einer Zeit von Zerstörung und Anarchie. So geschah es auch, dass sie nicht protestierten, ja es sogar gut hießen, als die Staaten begannen, immer weitere Normen zu beschließen. Denn es gab ja niemanden, der unglücklich ihretwegen hätte sein sollen. Möchte man meinen, ha? – Nicht allen gefiel, was aus den Staaten wurde, sie verließen die Städte und zogen aufs Land. Dort, wo sie in Freiheit ihre Leben führen konnten. – Eine gute Entscheidung, wenn du mich fragst. Über Jahre hinweg interessierte es die Staaten nicht, was diese 'Nicht-Staatler' so machten. Sie trieben von Zeit zu Zeit sogar Handel miteinander. Nun aber, da ihre Macht über die eigenen Bürger langsam den Zenit erreicht, trachten die Anführer der Staaten nach mehr. " Er legt eine kurze Pause ein. Ruhig fragt er mich:

"Kris, was denkst du, könnte das bedeuten?"

Mehr als Schulterzucken kann ich darauf nun wirklich nicht antworten, oder?

"Was glaubst du, wieso du und die anderen V-Klässler trainiert werden, zu kämpfen?"

Wieder nur Schulterzucken.

"Überleg, wenn du etwas begehrst, dass ein anderer besitzt und dir verweigert. Was tun manche in solch einem Fall?"

"Nichts. Man kann es ja doch nicht ändern", gebe ich wahrheitsgetreu, stutzig über die Frage nachdenkend, zurück.

"Gut, man mag dir beigebracht haben, dass du alles mit Worten bekommen kannst, oder darauf verzichten musst. Leider ist es in diesem Fall anders."

Oooh...

"Aber welchen Sinn hätte es, gegen die 'Nicht-Staatler' zu kämpfen?", wundere ich mich.

"Ihr Wille ist stark. Sie halten nichts von den Staaten. Alles, was sie wollen, welches sie auch bereit sind, zu verteidigen, ist ihre Freiheit. Und diesen Widerstand versuchen die Staaten, allen voran Wien, zu brechen – durch Gewalt – ausgeführt von V-Klässler-Abgängern, organisiert in V-Kommandos. Als Reaktion darauf schließen sich nun auch immer mehr der 'Nicht-Staatler' zusammen zu lockeren Verbänden. Und hier ist genau der Punkt, an dem du und auch jeder andere V-Klässler, der sich überzeugen lässt – beziehungsweise noch nicht vollends vergraut wurde, ins Spiel kommt. Wir Nicht-Staatler brauchen euch, die Freiheit der Menschheit zu verteidigen."

"Moment mal, zwei Fragen. Erstens, warum sollte ich euch helfen? Zweitens, ich kann noch nicht einmal gegen einen intellektuell minderbemittelten wie Luko gewinnen, wie soll ich dann euch gegen Leute wie Carik verteidigen?!"

"Kris, vielleicht ist es dir bereits aufgefallen, aber du bist nicht wie jeder andere. – Kris! Du kannst träumen! Du hast Luko in Schach gehalten, ohne eine Ahnung zu haben, wie man kämpft! Und denk erst an den Feuertunnel-Test!", versucht er mich begeistert zu begeistern. Schon wieder dieses Argument...

"Alles, was du brauchst, ist ein wenig Zeit für dich, in der nicht jemand versucht, dich zu vergrauen."

"Das beantwortet noch immer nicht meine erste Frage: Wieso sollte ich? Ich meine, würde ich es tun, müsste ich kämpfen. Und Gewalt ist doch echt das Letzte."

"Eben genau deswegen", beharrt Naan:

"Was glaubst du wohl, wirst du tun, sobald du fertig bist mit der V-Klasse? – Na, denk nach... – Genau, gut erkannt. Du, wirst gegen die Nicht-Staatler kämpfen. Und wozu, nur damit irgendjemand seine Macht weiter ausbauen kann?", erklärt er mir, ohne wie ein Oberlehrer zu klingen und doch nicht das nötige Maß Ernst wegzulassen.

Stumm hocke ich da. Plötzlich strecke ich die Hand aus, verlange wortlos nach dem Tablet. Ebenso still reicht Naan es mir. Bilder, nur Bilder. Menschen, so viele Menschen. Mehr, als ich in meinem gesamten Leben zusammen gesehen habe. Alle sind sie fröhlich, lachen in die Kamera. Essen Dinge, die ungewöhnlich aussehen – wie sie wohl schmecken? – tun Sachen, von denen ich noch nie auch nur gehört habe, tragen Kleidung, die bequem aussieht, nicht so steif wie meine Schuluniform.

Was Naan auch immer erzählen mag... eine Welt, die nicht real sein kann – nicht real sein konnte.

"Kris, ich bitte dich. Höre auf mich. Hilf mir, die Menschheit zu retten."

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