Der Staat Kapitel 15

"So, da du nun fertig zu sein scheinst... Selbst, wenn jedes einzelne deiner Worte auch nur in irgendeiner Weise der Wahrheit entspräche - was einen äußerst unwahrscheinlichen Fall darstellen würde: Was soll mir das bringen? Habe ich irgendeinen Grund, dir zu vertrauen?"

Kurz schlägt er die Augen nieder, seufzt. Meint dann bestimmt, unterschwellig zurückhaltend auffordernd:

"Lass mich dir zeigen, was ich meine. Komm mit mir. Sobald du siehst, wie sich die Sache außerhalb des Staates verhält, wirst du verstehen."

Eine lange Pause entsteht. Seine Anspannung knistert förmlich zwischen uns.

Wenigstens fragt er mich diesmal angemessen, bevor er versucht, mich irgendwohin zu bringen. Trotzdem weiß ich im Moment wirklich nicht genau, ob ich lachen, oder Mitleid mit ihm haben soll. Armer verwirrter Kerl.

Wäre es nicht das Beste, jemanden bezüglich seiner offensichtlichen Verwirrtheit zu verständigen?

Nur mal so als Gedankenexperiment. Was, hätte er tatsächlich mit all seinen Behauptungen Recht? Würde ich dann nicht in einer Welt leben, deren Führungsriege Gewalt als ein legitimes Mittel zur Gebietserweiterung ansieht?

Immer wilder drehen sich die Gedanken in meinem Kopf. Jede Sekunde bringt mehr Chaos in meinen normalerweise kristallklaren Verstand.

 

Carik und ein Mann, es könnte, der Haarfarbe nach zu urteilen, sei Vater sein, sitzen sich gegenüber an einem Tisch voller Landkarten. Sie scheinen zu diskutieren. Der Mann ergreift bestimmend das Wort:

"Manchmal ist da einfach der Moment, in dem man versucht, jemandem etwas klar zu machen, was absolut und vollkommen logisch und durchdacht ist, dein Gegenüber jedoch nicht den leisest möglichen Hauch von so etwas ähnlichem wie Einsicht zeigt."

 

Hä?

Ahm, was zum? Wieso? Warum? Weshalb hat sich das gerade in meinem Kopf abgespielt. Das Gefühl ist dasselbe, wie vor einer knappen Stunde im Krankenzimmer, als ich den Obersten Boss und seinen Gehilfen gesehen habe. Real und wirklich, doch entfernt und wie durch eine dicke Wolldecke gedämpft.

Naan bemerkt meine Verwirrung, das erkenne ich an seiner Körperhaltung, zu Wort meldet er sich jedoch nicht.

Wieder vergehen die Minuten nur durch stilles Gegenübersitzen. Bis Naan dann doch etwas äußert:

"Neugierde ist etwas, das dir die Fähigkeit gibt, nie zu wissen, was am nächsten Tag geschehen wird."

Oookaaayy...

"Was ist 'Neugierde'?", schieße ich prompt heraus.

"Es bedeutet, sich nie mit dem zufrieden zu geben, was man weiß, sondern immer etwas Neues zu erfahren oder zu erleben."

"Es wäre also neugierig von mir, dich aus dem Staat hinaus zu begleiten?", frage ich unsicher.

"Genau richtig erkannt", meint Naan, einen erfreuten Unterton über mein - unterschwelliges? - Interesse? an seinen Informationen. Entscheidungen traf ich schon viele, doch waren sie alle eher nach dem Motto: 'Was esse ich denn heute?'

Diese hier jedoch unterscheidet sich in einem ganz zentralen Punkt von allen anderen: Sie ist wichtig, sie hat Einfluss auf die Zukunft. Und das erkenne ich sogar ohne langes Nachdenken oder Erfahrung.

"Kris, ich habe dir für den Moment alles gesagt, was ich vorhatte, dir mitzuteilen. Morgen Nachmittag werde ich mich melden. Bis dahin solltest du entschieden haben, ob du mein Angebot annimmst, oder nicht. Und merk dir, ich will dich zu nichts verpflichten, du darfst dir selbst aussuchen, was du tust, nachdem ich dir die Außenwelt gezeigt habe."

"Du gehst?", stelle ich fest, einen unbestimmten Unterton nicht unterdrücken könnend.

"Soll ich noch bleiben?", möchte er im Gegenzug natürlich sofort wissen:

"Hast du noch eine Frage?"

"Nein", senke ich den Blick.

"Dann wünsche ich eine gute Nacht", murmelt er dankbar für meine Zeit, verlässt das Zimmer durch die Tür. Wo will er denn hin? Die Haustür ist doch zugesperrt und nur Feinberg Familienmitglieder kommen per Fingerabdruck durch.

Also folge ich ihm, um ihn hinauszulassen.

"Wieso gehst du nicht ins Bett?", kommt es gemurmelt aus der Dunkelheit der Küche.

"Weil du doch sonst nicht hinauskommst", widerspreche ich stirnrunzelnd. – Wie ist er überhaupt hereingekommen?!?

"Weißt du Kris, es hat so seine Vorteile, ein gewisses handwerkliches und allgemein technisches Geschick zu besitzen", gibt er zurück, zieht ein kleines Kästchen aus der Hosentasche, hält es an die Tür, legt eine zweite, kleinere Box an die Wand direkt über dem Fingerabdruckfeld rechts der Tür und bewegt dann das Kästchen nach rechts.

Klickend springt das Schloss auf.

Mit offenem Mund starre ich noch minutenlang auf die Stelle, an der Naan zuletzt stand, bevor er ins Stiegenhaus verschwunden ist. Wie hat er das gemacht?

Vorsichtig taste ich die Seite der Tür auf der Höhe der Klinke ab. Hier befindet sich in einem schmalen metallenen Rahmen ein kleines, rundes Loch. Direkt gegenüber, auf selber Höhe, scheint im Türstock so etwas wie eine dünne Stange in eingelassen zu sein. Sie passt nach Augenmaß genau in die runde Öffnung. Probehalber ziehe ich meinen Finger über den Scanner, ohne die Tür zuvor geschlossen zu haben. Tatsächlich, der Metallstift springt heraus, würde direkt in das Loch der Tür fahren und sie so blockieren. Wenn diese Stange aus Eisen ist, lässt sich die Funktion des Kästchens erklären: ein Magnet, der sie zurück in den Türstock bewegt. Die Box müsste somit also den Scanner irgendwie austricksen, sodass er den Verriegelungsmechanismus freigibt.

Hmm. War das gerade Neugierde?

Naan wird morgen nicht alleine den Staat verlassen, entschließe ich. Allerdings werde ich auf jeden Fall versuchen, herauszufinden, wer er überhaupt ist...

 

"Kris, wach auf!", weckt mich Mutter.

Duschen, Schuluniform, Müsli, Zähneputzen. Linse, Ohrstöpsel, Armband.

Tobias und Lukas treten neben mir aus ihren Wohnungen.

"Morgen", wecken wir uns gegenseitig auf.

Zu den dreiundzwanzig Personen an der Bushaltestelle ist eine neue Person gestoßen, ein weiterer Staatsangestellter. Doch steht er nicht bei seinen Kollegen, sondern etwas abseits, trägt schwarze Sonnenbrillen, sodass man nicht herauszufinden vermag, worauf sein Blick lastet.

Unglücklicherweise werde ich das Gefühl einfach nicht los, dass ich derjenige bin, für den sich der Neue interessiert.

Glücklicherweise kommt der Bus heute wie geplant und bringt uns zur Schule.

Dieser neue Staatsangestellte bleibt bis zum Schluss im Bus, steigt nicht wie seine Kollegen zwei Stationen vor dem Schulzentrum aus.

Kaum ausgestiegen, hält er auf Gebäude Nummer sieben zu.

"Kennt ihr den?", wende ich mich an Lukas und Tobias.

Beide schütteln nur die Köpfe. Der Mann steuert schnurstracks zur Direktion, ohne anzuklopfen tritt er harsch ein. Das letzte, was ich sehe, bevor ich vorbeigehe und die Tür zufällt, ist, dass er seinen Aktenkoffer mitten auf dem Schreibtisch des vollkommen überrumpelten Direktors öffnet.

 

"Tschau", verabschieden wir uns. Lukas und Tobias verschwinden in die B-Klasse. Ich betrete erst zwei Türen weiter meine Klasse.

Wieder etwas, das B von V unterscheidet: Hier sind die Schüler in angeregte Gespräche vertieft, tauschen sich aus – mit einer Ausnahme - wohingegen man sich in der B einfach ruhig auf seinen Platz setzt und wartet, bis die Stunde beginnt. Milet sitzt alleine in der letzten Reihe. Neben ihm ist noch ein Platz für mich frei.

"Morgen", grüße ich. Seine triste Miene hellt sich bei meinem Anblick auf.

"Hallo. Du hast Lukas Schlag also gut überstanden", erkennt er.

"Was haben wir denn jetzt?", will ich in meiner Pflicht als Schüler wissen. Es ist komisch, Stundenplan habe ich nämlich noch keinen bekommen, normalerweise war der immer sofort auf mein Tablet, sobald ein neues Jahr, somit eine neue Klasse, begonnen hat.

"Oh, das hat dir wahrscheinlich noch keiner erklärt. Die V-Klasse hat keinen 'Stundenplan'. Bei uns läuft es so ab, dass die momentan wichtigen Themen unterrichtet werden. Wenn wir also gestern Spezialtraining hatten, wird man uns heute wohl mit Sportkunde, Anatomie oder allgemeiner Medizin zureden.

"Ah so", nicke ich. Kommt mir logisch vor.

In diesem Moment erschallt eine Durchsage durch die Lautsprecher. Technisch geringfügig verzerrt vernehme ich eine Stimme, die an Kälte, Gefühlslosigkeit, Befehlsgewohntheit, dunkler Erfahrung und unterschwelliger Brutalität in keiner Weise zu übertreffen ist.

"Kris Feinberg möge sich bitte unverzüglich in der Direktion melden."

Aahm... Instinktiv ziehe ich die Schultern ein.

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