Der Staat Kapitel 16

Sieht so aus, als würde ich wohl meine erste Stunde in der V-Klasse verpassen. Je nachdem, wie lange das jetzt dauern mag. Was aber wohl wichtiger ist, wieso? Blöderweise bin ich mir fast sicher, dass diese Stimme zu dem Mann mit den Sonnenbrillen gehört und gefühlsmäßig ist es die erste Person, bei der ich es gerne vermeiden würde, sie zu treffen.

"Kris, du musst los", reißt Milet mich aus meinen Gedanken.

"Ja, stimmt", gebe ich undeutlich, abwesend zurück. In kleinen Schritten mache ich mich auf den Weg. Erneut schallt diese Stimme durch die Lautsprecher, deren angstausstrahlende Wirkung keine zwanzig Adjektive wirklich beschreiben können. Diesmal mit einer unglaublich starken, bedrohlichen Portion Nachdruck hinter ihr:

"Kris – Feinberg – melde – dich – in – der – Direktion!"

Erschrocken verdopple ich meine Schrittlänge und stehe etwa eine halbe Minute später vor der Direktion. Jetzt verstehe ich, wieso Gefühle in der Gesellschaft verpönt sind. Man fühlt sich viel zu oft schlecht, weiß nicht, was man tun soll, weil der Verstand etwas vollkommen anderes will. Wieso aber fühle ich auf einmal – oder besser gesagt seit ich Naan das zweite Mal getroffen habe?

Könnte es irgendetwas mit diesen 'Träumen' zu tun haben, über die Naan so aufgeregt zu sein scheint, so als wären sie etwas Besonderes und nicht absolut Unlogisches?

Kaum hebe ich die Hand um anzuklopfen, öffnet man mir. Verstummt trete ich ein.

Ein freundliches Lächeln des Direktors empfängt mich, links im Hintergrund am Rand des großen Schreibtisches steht er – der Mann mit den Sonnenbrillen. Der Koffer liegt noch immer geöffnet von mir abgewandt auf der Tischplatte.

"Grüß dich Kris", bietet der Direktor mir die Hand an. Mit meinen Gedanken irgendwo, ergreife ich sie gewohnheitsgemäß.

"Dieser Herr möchte etwas mit dir besprechen", erklärt er noch aufmunternd und verlässt dann den Raum durch eine zweite Tür in ein Nebenzimmer.

Bis sich jene vollständig geschlossen hat, verharrt der Sonnenbrillenmann regungslos.

Monoton, mir, aufgrund ihres Eiszapfen erzeugenden Klangs, einen Schauer über den Rücken jagendend, dringt seine Stimme in meine Ohren:

"Kris, wir heißen dich willkommen in der V-Klasse. Wir freuen uns, dass du ein Teil von uns werden wirst." Pause.

"Leider gab es in letzter Zeit einige unerfreuliche Zwischenfälle in Bezug auf deine Person. – Aus diesem Grund haben wir beschlossen, dich an einem Ort unterzubringen, an dem du sicher bist vor etwaigen erneuten Übergriffen. Du weißt, wovon ich spreche?" Das ist das xerstex Mal, dass er seine Stimmlage verändert!

"Nein", schüttle ich noch immer gedankenversunken den Kopf. Moment, doch... Ich hebe den Blick.

Mit einer zackigen, schnellen, kontrollierten Bewegung dreht der den Koffer herum. Ein Laptop, wie überaus praktisch...

"Es geht um diesen Mann hier." Mehr zu sagen, erachtet er nicht für nötig. Alles Wichtige ist gesagt.

Er deutet auf das Foto von Naan in seinem Auto.

"Oh", mache ich nur.

"Kris, wir wollen nicht, dass du zu Schaden kommst. Dieser Mann ist böse, er möchte deinen Verstand verwirren. Darum sei bitte so vernünftig und lass uns dich in ein neues, sicheres Zuhause bringen." So etwas wie nett sein oder lächeln scheinen ihm fremd zu sein. Zumindest der Art, wie er mir das vorbringt, nach zu urteilen...

"Aber, was ist mit meiner Familie?" Offenbar hat er mit dieser Frage gerechnet. Sein Gesicht wird noch ernster als zuvor, seine Stimme jedoch irgendwie weicher:

"Sie stellen leider ein Sicherheitsrisiko dar. Du wirst sie immer besuchen können, sei unbesorgt. Jedoch musst du verstehen, dass wir niemandem in dieser Sache vertrauen können, außer uns gegenseitig." Wieder eine Pause. Er lässt seine Worte für sich sprechen.

"Hast du das verstanden?", will er sich zur Beendigung der Sache vergewissern.

Mucksmäuschenstill knickt mein Kopf nach vorne und nach hinten.

"Sehr gut", meint er zufrieden, schließt den Koffer und ruft den Direktor zurück herein:

"Wir sind fertig. Auf Wiedersehen", hängt an mich gewandt an:

"Du wirst nach der Schule abgeholt werden. Und vergiss nicht, immer und zu jedem Zeitpunkt Linse, Ohrstöpsel und Armband zu tragen. Es dient deiner Sicherheit."

Weg ist er.

In der rechten Hälfte meines Sichtfeldes poppt ein Foto auf.

"Er wird dich abholen", ist die letzte Botschaft des Sonnenbrillenmannes über den Ohrstöpsel.

Junos.

Der Direktor kommt auf mich zu, nimmt meinen Arm.

"So verwirrend diese Situation sein muss für dich, so sehr vertrau uns bitte", verleiht er den Worten des Mannes mit den Sonnenbrillen durch Freundlichkeit und Geborgenheit vermittelnde Stimmlage unglaubliche Kraft.

Naan...!

"Geh nun bitte zurück in deinen Unterricht", entlässt er mich mitfühlend.

"Okay", bringe ich als Einziges an diesem Vormittag noch heraus.

Diesmal schickt mich keine der Lehrpersonen zur Schulärztin. Sie scheinen alle Bescheid zu wissen. Auch Milet wirkt so, als wüsste er zumindest ungefähr, was in mir vorgeht. Einmal in der Pause, als ich mit leerem Blick auf meinem Platz sitze, raunt er mir aufmunternd zu:

"Es tut mir Leid für dich, das kommt leider manchmal vor. Du solltest dir bewusst sein, dass sie doch nur das Beste für dich und deine Ausbildung wollen. Zuhause hast du einfach zu viel Ablenkung."

Hm, irgendetwas an seinen Worten...stimmt nicht...macht mich stutzig.

Einen Wimpernschlag später ist es schon wieder vergessen.

 

Gelangweilt beiße ich von meinem Jausenriegel ab. Drei Parteien versuche mich zu zerreißen. Der Sonnenbrillenmann, Naan und ich selbst, der ich bei meiner Familie bleiben und zufrieden weitermachen will, wie damals, bevor Naan aufgetaucht ist.

Wieso wollte ich jemals in die V-Klasse? Es ist doch nichts anderes als...

 

"Kris, kommst du?", steht Junos fröhlich lächelnd nach der Schule vor mir:

"Wir haben noch ein, zwei Dinge zu erledigen."

"Sicher."

In einer dieser schwarzen langen Autos werden wir zu mir nach Hause gefahren.

Wie auf Wolken scheinen wir über den Asphalt zu gleiten. Die Fahrt verläuft im Stillen.

"Schnapp dir deine Sachen. Hier hast du eine Tasche." Junos drückt sie mir in die Hand.

Rasch gehe ich die Treppen hinauf, werde von meiner Mutter empfangen. Tapfer versucht sie, sich die Tränen zu verkneifen.

"Du wirst mir fehlen", schnieft sie.

"Du mir auch", gebe ich nur halb anwesend zurück und umarme sie.

Viel zu früh schon drückt sie mich wieder weg.

"Los, beil dich, du musst los", meint sie, mich im Wissen lassen, dass sie wenigstens dieses eine Mal ihre 'Pflicht' als Mutter vergessen möchte, mich liebevoll jeden Tag aufs Neue an etwas zu erinnern.

Hastig schiebe ich kurzerhand den gesamten Inhalt meines Kleiderschranks in die Tasche. Hosen, Shirts und Hemden, Socken,...

Dann noch meine Zahnbürste und mein zweites Paar Schuhe. Das war's, glaube ich.

"Warte", passt Mutter mich noch einmal an der Tür ab.

Zärtlich, mit zitternden Händen gibt sie mir ein Foto von unserer Familie. Die linke untere Ecke ziert ein verschwommener, frischer Wasserfleck.

Anders als mit einer letzten Umarmung weiß ich ihr nicht zu danken. Bis zum Schluss steht sie hinter mir, unterstützt mich. Und nun muss ich hier weg, weil ich 'in Gefahr bin'.

Aber habe ich eine Wahl?

Ich will nicht loslassen, möchte für alle Ewigkeit diese Geborgenheit in ihren Armen spüren, fühlen, wie sie sich um mich kümmert um mir jeden Tag erneut zu sagen, was für ein guter Sohn ich bin.

Nein, ich will nicht hier weg.

Plötzlich knackt etwas in meinem Ohr, Junos meldet sich. Erschrocken enttäuscht erstarre ich für einen Moment. Schon?...

"Bist du fertig? Kommst du dann bitte?"

"Ich...", beginne ich, breche, unfähig zu sagen, was ich fühle, ab.

Sanft streichen ihre weichen Hände durch meine Haare.

"Du wirst uns doch besuchen kommen?", möchte sie gedankenverloren wissen.

"Natürlich", versichere ich.

Noch einmal schnieft sie, zieht meine Stirn hinunter zu ihrem Mund. Dieser mütterliche Kuss ist das letzte, was ich von ihr noch mitbekomme. Abgesehen von einem gehauchten:

"Ich hab dich lieb."

Erneut platzt Junos im besten Moment mit einem Kommentar über den Ohrstöpsel herein:

"Kris, wir müssen los. Wir haben noch etwas zu erledigen."

Die Tür fällt hinter mir zu.

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