Moment - hat mir der Staat nicht eine Stadtkarte auf das Tablet geladen?
In mir gehen gerade Dinge vor sich, die ich nicht verstehe. Ein Cocktail aus fliegenden Gedanken und widersprüchlichen Gefühlen strudelt in meinem Kopf.
Zwei Berührungen später zeigt mir das Tablet die Meldung:
'Es tut uns leid. Der von Ihnen angeforderte Inhalt ist nicht mehr aktuell. – Falls Sie unsere Hilfe benötigen, drücken Sie drei Mal kurz auf ihren Irgendetwas-ist-nicht-so-wie-es-sein-soll-Button.'
Dann wäre zumindest das entschieden. Einige Schritte hinter mich gebracht, blicke ich kurz und eindringlich auf den roten Knopf. Unbestimmte Gedanken flüstern mir zu, es sei keine gute Idee. Und aufgrund der simplen Tatsache, dass mich solche unbestimmten Gedanken erst in diese missliche Lage gebracht haben, ignoriere ich sie.
Kris, was machst du denn da?, zuckt Naans Stimme durch die dunkle Schwärze meines Bewusstseins.
Unbewusst ziehe ich den Kopf ein und die Schultern hoch. Wie von selbst beginnen meine Beine sich schneller zu bewegen. Ohne noch einmal zurückzublicken, entferne ich mich so rasch wie möglich von Naan, seinem Auto und all diesen dummen Sachen, welche er mir erzählt hat.
Keine zwei Minuten später fährt die Polizei auf mich zu. Pflichtbewusst halten die Beamten direkt neben mir an. Mit einem freundlichen und hilfsbereiten Lächeln auf den Lippen lässt der Beifahrer die Glasscheibe einfahren und möchte ruhig von mir wissen:
"Hast du den Button gedrückt?"
Stumm nicke ich. Schon wieder dreht sich in mir alles. Schlimmer als die Autofahrt mit Naan fühlt es sich an.
"Was ist den passiert?", fragt er weiter.
"Also...", was ist los mit mir, sag doch einfach, was passiert ist, Kris!
"ahm...Nach der Schule wollte ich wie immer in den Bus einsteigen, jedoch sprach mich ein unbekannter Mann an, faselte irgendwelchen sinnfreien Dinge und hat mich dann einfach mitgenommen. Es gelang mir, mich von ihm loszureißen. Und jetzt bin ich hier..."
Wenn sich der Polizist auch bemühen mag, freundlich zu bleiben, schleicht sich für einen Moment etwas anderes, Undefinierbares in seine Gesichtszüge.
"So, so...", meint er, weiß offenbar nicht so recht, was er sagen soll:
"Äh...wo war das denn? – Wo du dich losgerissen hast?"
Gleich hier um die Ecke, eigentlich.
"Keine Ahnung. Ich wollte einfach weg von dem Kerl und habe nicht aufgepasst."
"Hmm...", er wendet sich seinem Kollegen zu:
"Karl, überpr...", er stoppt mitten im Satz, dreht sich nach mir um:
"Kris?, stimmt das?"
Erneut nicke ich.
"3B-Klasse, Schule Nummer 37?"
"Genau", bestätige ich.
Wieder blickt er den Fahrer an:
"Überprüf ihn kurz", fügt an mich hinzu:
"Bitte habe kurz etwas Geduld."
Aus dem Inneren des Polizeiwagens höre ich einige Tasten klackern. Wenige Augenblicke vergehen, bis man mir mitteilt:
"Okay, Kris Feinberg, wohnhaft in der sechsten Ringstraße...Wir werden dich jetzt fürs Erste einmal nach Hause bringen. Wenn du bitte einsteigen würdest? Mein Kollege Karl fährt besser als dein Entführer, also keine Angst."
Auf Kommando springt eine Tür auf und ich nehme, wie befohlen, Platz.
Selten passiert es einem, dass man mit seinem vollen Namen angesprochen wird. Um genau zu sein, ist mir das nun erst drei Mal im gesamten Leben passiert und zwar nur dann, wenn ich in die nächste Schulstufe aufgestiegen bin. Macht dann vier Mal.
Tatsächlich werde ich im Zuge dieser Autofahrt nicht so durchgeschüttelt, wie gerade eben bei Naan.
Sanft kommen wir vor meinem Haus zum Stehen.
Der Polizist erklärt mir über die Schulter:
"Du darfst jetzt aussteigen. Wir werden zu deiner Sicherheit eine Wache hier postieren, dieser Vorfall wird sich nicht wiederholen, vertrau uns. Morgen früh wirst du dann direkt hier, von einem Lehrer und einem Arzt abgeholt werden und zu deiner, von deinem Schuldirektor angeordneten, medizinischen Untersuchung gebracht. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Kris."
Ich steige aus.
"Vielen Dank,...Herr...?", will ich mich erkenntlich zeigen, doch habe keine Ahnung, wie er heißt.
Er schmunzelt kurz:
"Nenn mich Josef", bemerkt er meine Not.
"Vielen Dank, Josef! Auch Ihnen eine gute Nacht! Auf Wiedersehen."
Wieder lacht er kurz auf:
"Na, dass wir uns wiedersehen, wird wohl eher nicht passieren, trotzdem danke."
Und weg sind die beiden Polizisten.
Mittlerweile versuche ich schon gar nicht mehr, zu verstehen, was um mich herum so vor sich geht.
So beschränke ich mich darauf, wie gewöhnlich mein Abendessen bis auf den letzten Krümel aufzuessen und mich anschließend in mein Zimmer zwecks Hausaufgaben und Schlafen zurückzuziehen.
Wenigstens eines an diesem Tag läuft nach Plan. Aufgewühlt erledige ich meine Aufgaben und lege mich anschließend ins Bett.
Schwarz. Doch nur für einen Moment. Blitzbilder tauchen auf, verblassen so schnell, wie sie kommen. Alle hängen sie zusammen: Männer steigen aus mehreren Autos. Sie halten eigenartige Geräte in den Händen, gekleidet sind sie alle gleich. Schwarze, stabil wirkende Overalls mit einer Ausbuchtung um die Brust herum und harten, unzerstörbar erscheinenden, runden Kopfbedeckungen. Auf ein stummes Nicken von einem der Männer hin, setzten sie sich alle gleichzeitig, mit ruckartigen Schritten in Bewegung. Die Tür, welche ihr Ziel ist, stellt kein Hindernis für das Objekt – ein Gewicht an einem langen Griff –, geschwungen von einem von ihnen, dar.
Ich höre den Anführer zufrieden murmeln:
"Jetzt haben wir dich."
Plötzlich unterbricht ein einzelner Aufschrei die Szene:
"Kris, vertrau mir doch!"
Schweißgebadet fahre ich hoch, richte mich kerzengerade im Bett auf. Nur das fahle Licht des silbrigen Mondes bringt etwas Licht in mein Zimmer.
Unbewusst schlage ich die Decke zurück und schlüpfe in meine Schuluniform.
Es irritiert mich selber, wieso tue ich das?
Auch wenn ich die Antwort bereits weiß, stelle ich mir doch diese Frage.
Vorsichtig schleiche ich durch die Wohnung, drücke zaghaft die Tür auf.
Naan - er weiß etwas über mich, das ich nicht weiß, das ich wissen will.
Soll ich tatsächlich nach ihm suchen, ihn fragen, warum genau ich?
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