"Noch nie – und das meine ich wirklich so – ist mir jemand untergekommen, der sich so sehr dem System wiedersetzt, dass er aus ihm ausbricht. Noch nie ist mir jemand untergekommen, der sich so sehr auf sein Gefühl verlässt, sofort auf meine Fragen zu antworten und noch nie ist mir jemand untergekommen, der sich so viele Fragen stellt, wie du..."
Weitere Personen betreten den Raum durch eine Tür links von mir. Zwei Ärzte, ein uniformierter Mann mit Barrett und eine recht junge Dame mit einem Klemmbrett. Ihre Gesichter einen sie in einem, Erstaunen, Überraschung und - Moment... Eine winzige Spur von etwas anderem... Angst?
Allmählich beruhigt sich meine Atmung und es gelingt mir, mich aufzurichten.
Der eine Arzt setzt erneut an:
"Noch nie war eine Entscheidung so eindeutig und doch wohl bedacht, wie diese. Kris, schätze dich glücklich, zu sein, wie du bist. Heute hast du ein neues Kapitel in deiner Lebensgeschichte aufgeschlagen. Nun liegt es an dir, diese Seiten auch zu füllen!", verkündet er freudig und doch zurückhaltend freundlich.
"Fräulein Huber?", verlangt er nach der Dame mit dem Klemmbrett.
"Kris, wenn du bitte mit mir kommen würdest?", bittet sie mich.
Stumm folge ich ihr durch scheinbar endlose Gänge. Irgendwann kann ich es einfach nicht mehr erwarten:
"Soll ich die Worte dieses Arztes nun so deuten, dass ich aufgenommen bin, oder nicht?"
Sie lacht kurz auf, dreht sich nach mir um. Ihre langen braunen Haare schwingen über ihre Schulter. Freundlich blickt sie mich an.
"Er redet gerne verworren. Aber ich kann dir eines sagen, so sicher wie bei dir, war er sich noch nie."
"Also komme ich nun in die V-Klasse?", will ich endlich eine Antwort. Mir reichen diese ganzen Umschreibungen langsam.
"Du bestätigst mit jedem deiner Worte seine Entscheidung mehr", murmelt sie nur.
"Aach", mache ich nur und werfe den Kopf in den Nacken.
Wieder kichert sie nur, blinzelt zwei Mal mit ihren grünen Augen. Was ist los?
"Könntest du mir jetzt bitte diese eine Frage beantworten: Habe ich bestanden, ja oder nein?"
"Wir werden sehen, was noch aus dir werden wird", ist alles, was ich schmunzelnd zurückbekomme.
Galant drückt sie eine weiße Tür auf, deutet mir, einzutreten.
Mit einem Klacken drückt sie sie ins Schloss, lässt mich alleine in dem kleinen, weißen Raum. Vor mir ist nur ein kleiner Tisch. Auf diesem liegen zwei Dinge: ein weißes Armband mit einem schwarzen V darauf und ein kleines rundes Ding, an dem ein Zettel hängt:
'Einfach ins Ohr stecken und es kann losgehen.' Es ist wohl eines dieser Mini-Headsets, von denen ich erst einmal eines gesehen habe, nämlich als sich zwei V-Klässler in dem Kegelrestaurant getroffen haben und einer von ihnen es für einen Moment herausgeholt hat – warum weiß ich nicht.
Na gut, Armband angelegt, Ohrstöpsel dort, wo er hingehört.
Und tatsächlich höre ich keine zwei Sekunden später die Stimme des Arztes:
"Sehr gut, Kris. Damit darf ich dich in der V-Klasse willkommen heißen!" Ich könnte Luftsprünge machen, nicht nur bin ich tatsächlich aufgenommen, sondern erhalte endlich auch eine direkte Antwort.
"Normalerweise würde ich dich jetzt in die Schule schicken, doch du hast Glück, dass die V-Klassen heute ihren wöchentlichen Spezialunterrichtstag haben, welcher immer hier in diesem Gebäude stattfindet. – In wenigen Augenblicken hast du die Karte vor deinen Augen, vorausgesetzt, du hast die Linse, welche auch auf dem Tisch liegen sollte, angelegt."
Tatsächlich, bei genauerem Hinsehen, nun, da ich weiß, dass sie da ist, kann ich sie blass schimmernd auf der weißen Tischfläche gerade so erkennen.
Genau in dem Moment, als ich sie vorsichtig an mein linkes Auge setze, legt sich ein holografischer, gelber Pfeil auf den Boden vor mir, er weist zurück zur Tür hinaus, und eine kleine, leicht transparente Karte erscheint im rechten oberen Eck meines Sichtfeldes.
Zum Abschied meint der Doktor noch:
"Folge einfach den Pfeilen auf dem Boden, sie führen dich zu deiner Klasse. Solltest du trotzdem Hilfe benötigen, sprich einfach die Worte: 'Kris an Zentrale' und es wird sich jemand melden und dich unterstützen", nach einer kurzen Betonungspause fügt er noch hinzu:
"Ich wünsche viel Erfolg."
"Danke", antworte ich. Ein kurzes Klicken verrät mir, dass unser Gespräch fürs Erste beendet ist.
Diese völlig neue Welt gefällt mir, beeindruckt mich, lässt mich nichtsdestotrotz mit einem komischen Gefühl von Wozu-soll-der-ganze-Kram-eigentlich-gut-sein? zurück.
Tief atme ich einmal durch. Dann beginne ich, den Pfeilen zu folgen.
Lange, erwartungsvolle, aufgeregte Schritte tragen mich durch die weißen Gänge.
Wieder drängt sich mir die Frage auf, was mich nun wohl wirklich erwarten wird? Wie ist die V-Klasse nun wirklich? Ruhm und Ehre wirst du ernten – schön und gut, aber wie?
Zwei Minuten des Rätselns und In-Erinnerung-Rufens dessen, was ich mir in der Bibliothek durchgelesen habe, bringen mich vor eine zwei Meter breite, drei Meter hohe metallene Tür. 'Trainingsraum; Betreten während der Trainingszeiten auf eigene Gefahr.', steht auf ihr geschrieben. Aus dem Raum dahinter dringen kräftige junge Rufe, immer mal wieder splittert Holz, hin und wieder gibt eine ältere Stimme unverständliche Anweisungen und alles wird eingerahmt von fast schon rhythmischem metallischem Klirren.
Und da ist die Frage wieder:
Was wird mich erwarten?
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