Soll ich klopfen, oder einfach die Klinke runterdrücken?
Spontan entscheide ich mich für den direkten Weg. Dass mich eine neue Welt erwarten würde, wusste ich bereits heute Morgen, doch hatte ich bis jetzt nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese Welt denn nun wirklich aussehen würde.
Wenn so viele Eindrücke mit einem Mal auf einen einströmen, kann man vielleicht einen kleinen Bruchteil davon verarbeiten. Zumindest fühle ich mich gerade so.
Ich befinde mich in einer Halle – einer großen, nein – riesigen Halle. Ihre Breite und Tiefe zu schätzen, versuche ich erst gar nicht, es sind sicher an jeder Seite über dreihundert Meter, die Höhe würde ich spontan mit mehr als dreißig Metern beziffern.
Und offenbar scheint dieser gesamte Raum nur einem Zweck zu dienen: Sport.
Hier wird gelaufen, die Wände hoch- und runtergeklettert, werden Gewichte gehoben und allgemein viele Arten von Übungen ausgeführt, die ich noch nie gesehen habe. Wozu zum Beispiel soll es gut sein, seinen Körper nur mit den Armen so von einer Sprossenwand wegzustützen, dass es aussieht, wie eine menschliche Flagge? Der Geruch hier verrät mir, dass diese Leute schon einige Stunden hier sein müssen. Es sind V-Klassen-Schüler aller fünf höheren Schulstufen hier. Wieder kann ich nur raten, aber es dürften etwas weniger als hundert sein.
"Hey, du dort!", kommt eine Stimme irgendwo von den Trainierenden herüber. Ein junger, muskulöser Mann in Trainingsoutfit joggt einladend lächelnd mit seinen nackenlangen, blonden, bei jedem Schritt um seine grauen Augen hüpfenden Haaren auf mich zu:
"Kris, habe ich Recht?"
Von all diesen Eindrücken überwältigt, bekomme ich gerade so ein Nicken zustande.
"Junos." Er streckt mir seine Hand hin. Wie automatisch ergreife ich sie.
Freundschaftlich legt er mir einen Arm auf die Schulter und meint kameradschaftlich:
"Ich glaube, es ist bisher jedem so ergangen wie dir, als er zum ersten Mal dort stand, wo du jetzt bist. – Wie du siehst, hier findet der wöchentliche 'Spezialunterricht' statt." Er setzt den 'Spezialunterricht' mit den Fingern in Anführungszeichen.
"Wenn du mich fragst, sollten wir öfter hier sein, aber was soll's... – In jedem Fall – Oops, fast vergessen, dich den anderen vorzustellen..." Er wendet sich an die Trainierenden und verkündet:
"Hört doch mal alle kurz auf, bitte!" Stille legt sich über die Halle.
"Ich darf euch nun unseren Neuzugang: Kris vorstellen! Und wie jedes Mal, wenn ein Neuer dazukommt: Behandelt ihn mit Respekt und unterstützt ihn."
Kollektiv kommt es euphorisch von den Schülern zurück:
"Es ist uns eine Ehre, dich an unserer Seite zu haben!
Der Staat, der Eine und Einzige.
Hier ist unser Glück, hier ist unsere Zukunft.
Gemeinsam für alle, alle für die Gemeinsamkeit!"
Ob meine Verbeugung jetzt angebracht ist oder nicht, werde ich wohl nie erfahren. Denn kaum bin ich mit ihr fertig, meint Junos:
"Dann können wir ja anfangen. Hier entlang, bitte." Er schlendert nach links.
"Das Training startet für jeden hier in unserer 'Muskel-Farm' – Die Werkstatt und das Dojo", er deutet nach rechts auf eine große Doppelflügeltür in der rechten Wand der Halle:
"sind für dich momentan noch uninteressant. Zuerst müssen wir dich nämlich mal in Form bringen. – Ich glaube, du hast noch nie wirklich Sport betrieben?"
"Ähm, naja, hin und wieder gehe ich mit meinen Schulfreunden kegeln..."
"Na, das ist doch schon mal etwas", freut Junos sich. Nach einigen Schritten bleibt er stehen und deutet auf eine Tür in der linken Wand der Halle und drückt mir Trainingskleidung inklusive Schuhen in die Hand:
"Hier, zieh dich um. - Behalte aber Ohrstöpsel, Armband und Linse an."
"Okay."
Eine Minute später trete ich, bereit für was auch immer mich erwarten mag, aus der Umkleide.
"Sehr gut", meint Junos, deutet dann auf einen Jungen mit braunen Haaren in meinem Alter, welcher gerade zwischen einigen anderen auf einem Laufband trainiert:
"Das ist Milet. Er wird von heute an dein Übungspartner sein und dir helfen, dich in die V-Klasse einzufinden."
"Danke", gebe ich Junos noch mit, mache mich dann auf, Milet zu treffen und diese neue Welt zu erkunden.
Vorbei an einer Gruppe Gewichthebender, die mir mit dem Interesse, mit dem man immer einen neuen Mitschüler betrachtet, hinterherblicken, und mich durch eine Gruppe, auf Matten am Boden trainierender Mädchen schlängelnd, halte ich auf Milet zu.
Als ich etwa zehn Meter von ihm entfernt bin, unterbricht er abrupt sein Training und beginnt, mich eindringlich zu mustern. Mich aus gutem Grund unwohl fühlend, versuche ich, der Sache einen guten Start zu geben und erwidere seinen Blick, ohne ihn jedoch eindringlich anzustarren. Kurz zucken seine Mundwinkel, dann dreht er die Augen nach oben, so als versuche er sich an etwas zu erinnern. Unsicher beginne nun ich, ihn einzuschätzen. Milet scheint etwas größer als ich zu sein. Auch im Punkto Kraft und Ausdauer ist er mir meilenweit voraus. Irgendwie wollen seine fröhlichen, neugierig wirkenden, grünen Augen und die braunen Haare einfach nicht zusammenpassen, auch fügen sie sich nicht in den Rest seines mehrheitlich ernsten und aggressiv vorsichtigen Gesichtes ein...
Milet, ein ungewöhnlicher Name – genauso wie Junos.
"Sie sind ungewöhnlich...Das hat einen Grund: Sie kennzeichnen uns."
Wieso schleicht sich ausgerechnet jetzt Naan in meine Gedanken?
Nun stehe ich vor ihm. Er unterbricht seine Übung und steigt von seinem Laufband herunter.
Tief blicken wir uns in die Augen. Die Tatsache, dass noch kein einziges Wort gefallen ist, behagt mir so überhaupt nicht. Nie ist es mir bisher passiert, dass ich stumm gemustert wurde, ohne dass mein Gegenüber den Eindruck gemacht hat, mich als Person und nicht als interessantes Objekt zu sehen.
Freundlich strecke ich ihm die Hand hin.
"Ich bin Kris. Freut mich, dich kennenzulernen."
Für einen Moment betrachtet er nachdenklich meine Hand.
Wird er sie ergreifen? Werden wir uns verstehen? Wird er mich vielleicht einfach abstempeln, mir ein Laufband zuweisen und mich dann alleine lassen?
Komm schon Milet, ich habe nichts gegen dich, also lass uns das als Freunde beginnen...
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