Der Staat Kapitel 17

Ein zweites Mal noch versucht er, die richtigen Worte zu finden, dafür, was er sagen will. Erneut kommt nichts als Stille bei mir an.

"Zu ihrer Wohnung?", vergewissert sich der Fahrer.

 Zwei Sekunden dauert es, bis die Botschaft sich in Junos' Bewusstsein, der wie gebannt auf die Sitzfläche links von sich starrt, vorgearbeitet hat. Aus seinen Gedanken gerissen bestätigt er nachdenklich, abwesend murmelnd:

"Ja. So schnell, als möglich..."

Sein Gesichtsausdruck ist mir etwas vollkommen Neues, mutet an, als wäre er sich selbst nicht sicher, was er von seinen eigenen Gedanken halten soll. Fast sofort nachdem er meinen Seitenblick bemerkt, greift er sich sein Tablet und beginnt, irgendwelche Texte zu studieren.

Zeit für mich.

Wie wird meine Zukunft aussehen? Soll Junos von nun an etwa mein 'Erziehungsberechtigter' sein? Oder wie hat sich der Mann mit der Sonnenbrille das vorgestellt? Auf jeden Fall fahren wir zu Junos' Wohnung, wo auch immer diese nun auch liegen mag...

 Aber gemessen an seiner Funktion schätze ich irgendwo in der zweiten Ringstraße, nahe an den Verwaltungsbereichen in der ersten.

Nur eine Abbiegung, nachdem wir gestartet sind, stoßen zwei Militärfahrzeuge zu uns. Über meine Ohrstöpsel vernehme ich eine Stimme:

"Eskortkonvoi 3 zu ihren Diensten. Wir haben Order erhalten, ihnen Geleitschutz zu geben."

"Sehr gut", meldet sich Junos erleichtert zurück, lässt sich nun etwas entspannter an die Rückenlehne fallen.

"Wie lange muss ich bei dir bleiben?", frage ich direkt, doch leise.

Zuerst scheint es so, als wüsste er keine geeignete Antwort. Einige Augenblicke später erklärt er dann sachlich:

"So lange es die Situation erfordert. – Ich kann dir nur nochmals versichern, es dient deiner Sicherheit. – Mehr kann auch ich dir nicht sagen. – Doch sei unbesorgt, du wirst dein Leben so fortsetzten können wie immer. Mit dem einzigen Unterschied, dass dich nun niemand mehr belästigen wird."

Aber, Rom... – die Menschen, all die neuen Dinge. Naan – die Nicht-Staatler...?

Wieso sollte das eine Bedrohung sein?...Moment, bedeutet das, Naan hat vor, mir zu schaden?

Dann, dann...

...

Ich kann dem Staat vertrauen, nicht jedoch jemandem, den ich nicht kenne. Warum sträube ich mich aber gegen diese Tatsache. Vernunft und Verstand gehen immer über Impulse.

 

Nur wieso diesmal nicht?

 

"Bitte nach dir", hält Junos mir die Tür auf.

Mit geteilten Meinungen stehe ich dort. Einerseits ist es eine neue Erfahrung, ein neues Kapitel, und Neues ist interessant, habe ich herausgefunden, andererseits bedeutet es, dass mein Leben niemals wieder so sein wird, wie einst und dieses Gefühl, an einem Punkt ohne Wiederkehr zu stehen... Ohne Möglichkeit, zurückzukehren, wiederzusehen, was man einst gesehen hat und nie zu sehen, was man im letzten Kapitel alles hätte sehen können.

Und statt einzutreten, lehne ich mich neben der Tür an die Mauer, sinke hinunter, schlinge die Arme um die Knie und versuche, mir der Situation bewusst zu werden. Eine Wahl habe ich nicht, früher oder später werde ich eintreten müssen. Aber diesen einen letzten Moment möchte ich noch auskosten.

Bewusst tief atme ich ein und aus, werde ruhig, schließe die Augen, höre das Nichts der Umgebung.

Erneut spüre ich Junos' Unbehagen in der Lage, mit welcher er sich konfrontiert sieht.

"Du musst nichts sagen, mir geht es gut", melde ich mich. So ganz glaubt er mir nicht, die Wahrheit ist es trotzdem.

Dann greife ich mir mein Gepäck und überschreite die Türschwelle.

Einen Unterschied zur Wohnung meiner Familie scheint es kaum zu geben. Die Einrichtung ist dieselbe, einzig die Raumaufteilung ein wenig anders, die Gestaltung etwas offener und weitläufiger.

"Hier kannst du die Schuhe hinstellen", deutet Junos auf das Regal neben der Garderobe.

Ich tue wie geheißen.

"Wenn ich dir dann dein neues Zimmer vorstellen darf", bittet er mich, ihm zu folgen.

"Hier." Er öffnet eine weiße Tür mit meinem Name darauf. Dahinter kommt ein Zimmer zum Vorschein, das in etwa drei Mal so groß ist wie mein altes, Platz ist trotzdem nicht mehr.

Eine Auswahl dieser Sportgeräte, welche ich beim Spezialtraining gesehen habe, steht herum – sogar ein Laufband habe ich hier.

Junos bemerkt meine Spur Irritation und erklärt:

"Da wir ja nicht jeden Tag Spezialtraining haben können und wir uns trotzdem fit halten sollten, stellt man den meisten V-Klässlern Trainingsgeräte zu Verfügung, um auch außerhalb der Schulzeit trainieren zu können."

"Okay, danke", meine ich. Ich nehme einfach mal an, dass die Kegelabende mit meinen Freunden ausfallen werden für die Dauer meines Aufenthaltes hier, somit stellen diese Geräte eine willkommene Beschäftigung dar.

"Komm, ich zeig dir noch, wo das Badezimmer ist, dann muss ich mich leider für eine halbe Stunde entschuldigen. Falls du Hunger bekommst, der Kühlschrank ist voll, also bedien' dich einfach."

Hastig lässt er noch die Badezimmertür aufschwingen, dann ist er auch schon wieder dahin.

Müde muss ich gähnen. Was für ein Tag... Hunger? – nein. Schlaf brauche ich wohl fürs Erste...

 

 

Ein Raum, die Einrichtung unterscheidet sich gänzlich von allem mir Bekannten. Sie ist hauptsächlich braun, etwas rot und nur teilweise schwarz. Kärgliches Licht fällt durch ein verdunkeltes Fenster herein.

Eine Frau, sie mag gute siebzig sein, und ein Mann, gute vierzig, sitzen nebeneinander an einem großen Schreibtisch. Ihre Augenformen verwundern mich, sie wirken länglich.

Lautstark wird eine Doppelflügeltür aufgestoßen. Der Mann, der langen Schritts hereinmarschiert, ist mir wohl bekannt.

"Was gibt es, Naan?", möchte die Frau ruhig und besonnen erfahren, bemerkt, dass etwas nicht stimmt.

"Sie haben ihn weggebracht, ich weiß nicht, wo er ist", vermeldet er niedergeschlagen.

Der zweite Mann ergreift sachlich das Wort:

"Tja – Nun, da eure Hoffnung offenbar nicht mehr greifbar ist, können wir sie bitte vergessen?"

Vehement widerspricht die Frau:

"Katsu, lass das. Wir haben gegen Wien keine Chance, schon gar nicht, wenn es sich mit anderen Staaten zusammenschließt. – Vor allem, wenn sie Kris haben und Naans Infos bezüglich des Projekts 'Dragon Thunder' stimmen."

"Dann müssen wir eben selbst zusehen, etwas Ordentliches ins Feld schicken zu können", verstärkt Katsu seinen Standpunkt.

"Nein, Emi hat Recht, wir können keinen offenen Krieg gegen auch nur einen der Staaten riskieren. Und unser einziges Druckmittel, ihre Nahrungsversorgung, verlieren wir in zwei Stunden Kampf, zusammen mit unserem gesamten Territorium und unseren Leben", unterstützt Naan die Frau.

"Dann lasst mich dorthin gehen. Ich mache mir ein Bild von ihrer Stärke, stehle alle Informationen, an die ich rankomme", verlangt Katsu.

Besorgt wechselt Emi einen Blick mit Naan.

"Bist du dir da absolut sicher?", hakt letzterer nach.

 Entschlossen nickt Katsu und erhebt sich. Stumm gibt Naan seine Zustimmung. Mit Unbehagen blickt Emi ihnen hinterher, wie sie den Raum verlassen.

Einige letzte Worte murmelt sie noch:

"Arik, ist das wirklich nötig? Ist es das wert, Leben zu zerstören, um deine Vorstellungen durchzusetzen, so löblich sie sein mögen?"

 

Ein einzelnes Geräusch weckt mich. Das Schloss springt auf.

Junos ist zurück.

 

Naan, wo bist du?

 

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