Der Staat Kapitel 18

"Hast du Hunger?", fragt er verantwortungsbewusst, streckt dann seinen Kopf durch die Tür und bemerkt meinen Gesichtsausdruck. Wieder scheint er nicht ganz zu wissen, was zu tun ist.

 

Er entscheidet sich für etwas, mit dem man generell nichts falsch machen kann: Er nimmt stumm neben mir Platz, spendet mir stille Unterstützung.

 

"Fehlt dir deine Familie?" Die Antwort kennt er, aber er merkt, etwas anderes ist da noch, was mich bedrückt. Vermutlich ist es gut, wenn er es nie erfährt. Wenn er nie herausfindet, dass Naan in meinen Augen keine Gefahr darstellt, egal, was mir jemand einreden will.

Selbst im Falle dessen, dass er tatsächlich versuchen sollte, mir zu schaden, würde ich es bemerken und immer noch Hilfe holen können.

Ich will einfach wissen, ob stimmt, was er mir erzählt hat; ob es wirklich einmal eine Welt gab, in der nicht alles nur weiß in grau in schwarz war; wie es ist, außerhalb des Staates zu sein. Das 'Neue' wie er es nannte, klingt so viel interessanter, als alles andere hier, selbst die V-Klasse, die ja auch schon viele Neuerungen für mich bedeutet, mit einbezogen.

Nur wie schaffe ich es, zu erfahren, was ich wissen will?

In der Schule wurde mir immer gesagt, wie ich eine Aufgabe zu lösen hätte. Auf solcherlei Hilfestellungen kann ich nun wohl nicht mehr hoffen...

Es geht darum, Naan wiederzusehen.

Er befindet sich an einem mir unbekannten Ort, was es mir enorm erschwert, ihm eine Botschaft zukommen können zu lassen.

Eines ist klar, ich muss Armband, Ohrstöpsel und Linse loswerden. Denn begründet auf meiner Erfahrung mit diesen drei Gadgets, ermöglichen sie dem Staat mit mir zu kommunizieren, sowie auch, was momentan das größere Problem darstellt, mich zu lokalisieren.

Ich kann mich eigentlich nur in der Nacht frei bewegen.

Zuerst muss ich wissen, wo ich genau bin. Sonst kann ich Naan, selbst wenn ich ihn kontaktieren könnte, nicht mitteilen, wo er mich suchen soll.

Die Karte, welche sie mir auf das Tablet geschickt haben, ist nicht mehr dort, so viel ist mir klar. Natürlich, ich bin irgendwo in der zweiten oder ersten Ringstraße, das heißt relativ nahe am Zentrum von Wien und wenn ich den Staat soweit richtig einschätze, wird der Eingang dieser Wohnung bewacht.

Junos erträgt meine gedankenversunkene Stille nicht mehr und meint fröhlich:

"Ich mach uns jetzt mal etwas zu essen. Hoffe, du magst Nudeln."

Abwesend nicke ich.

Nehmen wir jetzt einmal an, ich käme hier raus und könnte den Weg zurück zur Wohnung meiner Familie ausfindig machen, wie beschreibe ich Naan diesen am Besten? 'Biege beim weißen Haus rechts ab und fahre solange weiter, bis du bei einem weißen links abbiegen kannst.'??

Okay, ich...sollte wohl eine Karte anfertigen. Großer Vorteil: ich kann sie Stück für Stück erweitern und mir theoretisch in Zukunft auch weiter zurückliegende Erkundungstouren im Gedächtnis behalten.

Gut, ich brauche mein Tablet zum Zeichnen, nach dem Essen gehe ich sofort los und...

Halt – Was tue ich in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ich entdeckt werde, während ich auf den nächtlichen Straßen mit einer Karte Marke 'Eigenbau' herumlaufe? Niemand Normales ist um eine solche Uhrzeit noch draußen, da bräuchte ich eine wirklich gute Erklärung, nur was für eine?

Nichts als Probleme. Dass eigenständiges Denken einem so viele Steine in den Weg wirft...

Hm, ich könnte sagen, ich bin gerade erst umgezogen und suche eine Bar, um ein wenig zu entspannen. Damit würde ich nicht einmal lügen. Wer auch immer mich aufgreift, bringt mich zu einem Lokal und lässt mich anschließend wieder in Frieden. Was nur, wenn jemand nach meiner Identität fragt? Sicher, einen falschen Namen kann ich immer angeben, blöd nur, dass alle Polizisten Fingerabdruckscanner dabei haben. So etwas würde sofort auffliegen.

Und was, wenn ich gar nicht erst hinaus müsste in die Straßen? Junos ist in einer recht hohen Position wie mir scheint, vielleicht kann ich seinem Tablet etwas Nützliches entlocken?

Okay, ich weiß, wieso mir diese Idee nicht sofort gekommen ist, weil sie nicht umsetzbar ist. Wie sollte ich denn bitte schön an seinem Passwort vorbeikommen?

"Essen ist fertig!", ruft Junos mich in die Küche.

"Komme schon!", melde ich mich zurück, stehe auf, bin irgendwie sogar froh, meinen Gedankenfluss für einen Moment unterbrechen zu könne.

"Spaghetti mit Tomatensoße", erklärt Junos die rot-gelbliche Masse, welche er mir vorsetzt. Verwunderlicherweiße, trotz der Tatsache, es hier mit etwas zu tun zu haben, was Mutter mir nie vorgesetzt hätte, duftet es unglaublich gut.

"Greif zu", fordert Junos mich auf und beginnt die Nudeln mit seiner Gabel aufzurollen.

Erst noch skeptisch, nach dem ersten Bissen vollends überzeugt, tue ich es ihm gleich.

Er lächelt, erkennt, es schmeckt mir.

Nach dem Essen schlägt Junos vor:

"Hast du Wien eigentlich schon einmal bei Nacht gesehen?"

Ich kann nur den Kopf schütteln. Nachts tendiere ich dazu, zu schlafen - natürlich heute ausgenommen.

"Dann komm mit", hält er mir einladend die Wohnungstür auf. Die argwöhnischen Wachen beschwichtig er mit den Worten:

"Wir gehen nur hinauf auf's Dach."

Anschließend holt er den Lift und etwa zwölf Sekunden später stehen wir auf dem flachen Dach voller Lüftungsgeräten. Für den ersten Moment verschlägt es mir den Atem. Wir sind hier höher oben, als die meisten Gebäude im Umkreis, über uns der schwarze Himmel mit all den glitzernden Sternen und dem stumm wachenden silbrigen Mond, unter uns die dezent erleuchteten Straßen.

"Beeindruckend, nicht wahr?", stellt Junos nach Momenten der andächtigen Stille fest.

Nur Nicken kommt von mir zurück, zu mehr bin ich zurzeit nicht im Stande. Das ist perfekt! Von hier oben kann ich nahezu alle Straßen der näheren Umgebung überblicken!

Heute Nacht bleibe ich hier oben.

Ohne Tablet? Wenn ich zurück hinunterlaufe und damit wieder hochkomme, wird Junos mit hundertprozentiger Sicherheit misstrauisch...

Also sollte ich mir die Lage der größten Straßen so gut es geht einprägen, und es anschließend aufzeichnen.

"Können wir noch etwas länger hier oben bleiben?", bitte ich Junos, dessen Schritte sich von mir entfernen, während ich mich so weit über die Brüstung lehne, dass ich schon fast hinunterfalle.

"Sicher", lacht er, meine Begeisterung sehend, auf, fügt dann brüderlich lächelnd hinzu:

"Fall halt nicht runter", und fährt seinerseits fort, in die Sterne zu blicken.

Nach einer Weile hebe ich meinen Blick wieder für einen Moment, lasse das silbrige Licht des Mondes auf meine Nase scheinen, frage mich:

"Wie glaubst du wohl, wäre es, dort oben zu sein? Auf dem Mond zu stehen, den Sternen entgegen zu greifen?"

"Weißt du denn nicht, dass es dort im Weltall sehr gefährlich für Menschen ist?", erinnert Junos mich an das in der Schule Gelernte.

"Schon. Aber nehmen wir doch einmal an, man könnte...", träume ich vor mich hin, lasse mich von den Straßen ablenken.

"Nein, das wäre falsch, vollkommen falsch", wiederspricht er:

"Alleine der Gedanke daran ist unausweichlich töricht und unvernünftig."

Hm...

Naja, was kann ich erwarten, das Wort Neugierde kennt er schließlich nicht...

Außerdem wirkt Junos Einstellung mir gegenüber so, als wäre es etwas Schlechtes, Dinge zu hinterfragen.

Natürlich, bevor ich Naan getroffen habe, habe ich auch nie etwas hinterfragt, weil damals alles so logisch erklärbar war. Jetzt aber geht das nicht mehr. Für all die Dinge, die in den letzten Tagen geschehen sind, kann mir der Staat offensichtlich keine wirklich brauchbare Erklärung liefern...

Meine Aufmerksamkeit schweift zurück zur Straße.

Eigentlich müsste ich mir doch nur den Weg von der Schule hierher einprägen, zur Schule findet Naan, das weiß ich. Trotzdem werde ich diese Karte anfertigen, für mich - für den Notfall - den äußersten - der aller äußersten - wenn ich fliehen muss - falls etwas passiert.

"Irgendwann sollten wir dann wieder hinunter", ruft Junos mir ins Bewusstsein.

"Schon?", drehe ich mich zu ihm um, blicke ihm tief, bittend in die Augen.

"Ja, leider - morgen ist Schule, da musst du genug geschlafen haben", bemuttert er mich.

"Och", mache ich wie ein kleines Kind, scherze, weiß, dass er Recht hat.

"Morgen können wir wieder, wenn du möchtest", bietet er, froh darüber, etwas meine Zustimmung Findendes, entdeckt zu haben, an.

Stumm werfe ich einen letzten Blick hinauf zu den Sternen, greife mit meiner Hand in die Luft, stelle mir vor, wie ich den Mond vom Himmelszelt nehme und er zwischen meinen Fingern durch hervorschimmert.

Von Seiten Junos' kommt nur ein unsicheres Lächeln.

Was er wohl von mir halten muss...

Was wohl der nächste Tag bringen wird...

Was ich wohl im Bezug auf Naan jetzt noch erwarten kann...

 

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