"Aufstehen", weckt Junos mich. - Wieso nicht meine Mutter?
Ein neuer Tag, ein neues Glück. Naja, vielleicht. Immerhin, heute kann ich mir die Route von hier zur Schule einprägen und anschließend zur Karte hinzufügen, welche ich gestern begonnen habe zu zeichnen.
Duschen, Zähneputzen, Anziehen. Frühstück.
Junos wartet bereits an der Tür, mit der Hand auf der Klinke. Schnell binde ich mir noch die Schuhe zu, schnappe mir mein Tablet und trete hinter ihm aus der Wohnung.
Zackig salutieren die Wachsoldaten. - Die werden mir noch irgendwann einmal Probleme machen…
Oha! Diese zwei kräftig gebauten, schwer bewaffneten, starr geradeaus schauenden Männer kommen direkt hinter uns nach! Und sie wirken nicht so, als würden sie damit in nächster Zukunft aufhören. Wie gesagt, das kann noch schwierig werden…
Genau so wie erwartet setzt sich die Menschengruppe an der Bushaltestelle zusammen: Wir sind hier relativ nahe am Stadtzentrum, hier leben Person mit hohen Positionen. Darum sind hier auch nur vereinzelt Schüler - genau genommen mit mir vier - dafür vermehrt Staatsangestellte - mit Junos, ohne Wachmänner, zweiunddreißig.
"Morgen", grüßt Junos einen etwa vierzigjährigen Angestellten des Staates mit kurzen, braunen Haaren und braunen Augen.
"Oh, guten Morgen auch dir, mein Freund!", erwidert dieser, von meinem Anblick überrascht: "Wer ist denn das? - Doch nicht etwa Kris?"
Stumm nur, abwesend nicke ich. Dort drüben, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das sieht aus wie,… ein Polizeiwagen. Ein Zufall? - Wohl eher nicht.
Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in einem Gefängnis befinden, welches mich auf Schritt und Tritt begleitet… Ich atme einmal frustriert aus.
"Stimmt etwas nicht?", lenkt Junos seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.
"Nein, alles in Ordnung…Es ist nur, das ist…", murmle ich mit gesenktem Blick.
"Dein erster richtiger Tag in der V-Klasse?", schlägt er vor: "Bist du nervös? - Das war ich damals auch. Aber ich bin mir sicher, du wirst dich schnell eingewöhnen", unternimmt Junos einen Versuch, mich aufzumuntern.
"Hm", kommt es von mir zurück.
Dann hält auch schon der Bus. Als Neuer steige ich als letztes ein, um niemandem seinen angestammten Platz streitig zu machen und lasse mich schlussendlich in der zweiten Reihe auf der linken Seite nieder. Die Wachmänner wenden sich nun von mir ab, schlendern hinüber zu den Polizisten, nehmen auf deren Rückbank Platz.
Junos und seinen Kollegen sehe ich irgendwo weiter hinten.
Und just in dem Moment, als wir uns in Bewegung setzen, startet auch die Polizeistreife den Motor.
In dem endlosen Strom Schüler mitschwimmend, meine Freunde Lukas und Tobias nicht wiederfindend, die Hoffnung in diese Richtung aufgebend, begebe ich mich zur 3V.
Wie schon gestern begrüßt mich hier Milets freundliches Gesicht.
"Was ist denn los? Wo bist du denn gestern hinverschwunden?", bestürmt er mich förmlich, kaum, dass ich mein Tablet auf meinen Tisch gelegt habe.
"Nun, ich bin…", beginne ich, werde jedoch unerwartet unterbrochen:
"Kris, du darfst niemandem davon erzählen - außer ich bin dabei!", bläut mir Junos per Ohrstöpsel ein.
"Ja, du bist?", hakt Milet nach.
"Ich bin…über den Schulalltag in der V-Klasse aufgeklärt worden. Lang und breit haben sie mir erläutert, was meine neue Klasse für mich und für den gesamten Staat, und so weiter bedeutet", vervollständige ich spontan. Wieder mit diesem Gefühl, nicht selbst Herr meiner Worte zu sein.
Die Unwahrheit zu erzählen - etwas, das mehr als über alle Maßen verpönt ist…
"Hm, naja…", kommentiert Junos mehr oder weniger zufrieden, aber mit einem unüberhörbaren Naserümpfen.
"Ah ja, das haben sie bei mir auch getan", steuert nun auch Milet seinen Teil bei. So langsam wird das kompliziert… Mit zwei Personen gleichzeitig zu kommunizieren, ohne dass eine der beiden von der anderen erfährt. Die eintretende Lehrerin befreit mich schlussendlich aus meiner Misere.
"Guten Morgen, Zukunftshoffnungen!", begrüßt sie uns mit einer zuckersüßen Stimme, welche nichtsdestotrotz klarmacht, dass sie und nicht wir die Hosen anhaben.
"Ah, wie ich sehe, ist Kris Feinberg nun ein vollkommenes Mitglied dieser Klasse. Willkommen Kris. Mein Name ist Johanna Sana und ich unterrichte die Fächer Geschichte und Deutsch sowie allgemeine Logik."
"Guten Morgen Frau Sana", grüße ich höflich zurück.
"Sehr schön. Nun gut, Klasse, wo sind wir letztes Mal stehen geblieben? Milet, kannst du uns erzählen, welches Thema wir gerade behandeln?", bittet sie ihn lächelnd im Stil von: 'Dies ist eine benotete Stundenwiederholung!'
"Natürlich. Zuletzt haben wir die Fehler des Feldherren Varus im Kampf gegen Arminius besprochen, oder besser, warum es Arminius gelungen ist, trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit, die übermächtigen römischen Legionen in die Flucht zu schlagen."
"Sehr gut", lobt Frau Sana: "Welche Gründe sind das gewesen?"
"Arminius hat damals als einer der ersten Feldherren die Technik des Guerillakampfes erfolgreich angewandt. Die Römer haben sich viel zu sehr auf ihre groß angelegten Schlachtformationen verlassen und Arminius im unwegsamen Gelände des Schlachtfeldes nichts entgegensetzen können."
"Gut, was lernen wir daraus für heute, Rutho?", verlangt Frau Sana von einem anderen Schüler, fortzufahren.
"Dass wir uns immer und zu jeder Zeit unseres Gegners und des Ortes des Kampfes bewusst sein sollen und uns somit nicht auf einen Kampf in fremdem, unübersichtlichen Gebieten einlassen", antwortet dieser wie aus der Pistole geschossen.
"Okay, aber was ist das, für uns am bedeutsamste Beispiel der Anwendung von Guerillataktiken?"
"Die Kämpfe der Jahre 2015 bis 2019. Damals, als unser Nationalheld Arik, auch genannt der Wolf in Flammen, den Staat Wien errichtete und die Angreifer unter Verwendung von Partisanentechniken zurückschlug."
"Richtig. Und wir sind alle froh, im Staat zu leben, nicht wahr?"
Kollektives Nicken, instinktiv auch von mir.
"Und was genau macht unseren Staat so besonders, wenn man ihn mit dem früheren Wien vergleicht?", will Frau Sana nun von der Klasse wissen.
Milet hebt die Hand. Sie jedoch blickt mir tief in die Augen: "Kris, weißt du es?", verlangt sie.
Nun, ich habe natürlich schon davon gehört, dass es vor den Staaten andere Länder gab.
"Früher sind die Menschen unkoordiniert vorgegangen, niemand ist für irgendetwas verantwortlich gewesen und jeder hat sich nur gegenseitig die Schuld zugeschoben", gebe ich alles an Wissen wieder, das ich zu diesem Thema besitze. Moment einmal, ein einziger Satz ist alles, was ich über die Zeit vor dem Staat weiß? Ernsthaft? Gut, abgesehen von dem, was Milet da gerade erzählt hat, wobei ich das zeitlich nicht einordnen kann…
"Das ist richtig, Kris. - Und um uns die Sache noch etwas genauer anzusehen, bitte ich euch, das Dokument, welches ihr soeben von mir erhalten habt, durchzulesen."
So vergeht die Stunde und das Verlangen in mir, mehr über die Vergangenheit zu erfahren, herauszufinden, ob Naan nun tatsächlich Recht hat mit seiner Behauptung, dass das Leben früher so viel schöner gewesen ist, wird immer größer.
Darum ist meine erste Tat in der Mittagspause auch, mich in die Bibliothek zu begeben.
"Ein Buch über Geschichte bitte", verlange ich höflich.
"Welches Jahr?", kommt es prompt, hilfsbereit zurück.
"2015 und davor, bitte." Interessiert hebt die Bibliothekarin die Augenbraue: "Aus der Zeit vor 2015 gibt es nicht viel, aber ich werde mal sehen, was ich finden kann…"
Nachdem sie etwas in ihren Computer eingetippt hat, meint sie freundlich, bedauernd: "Hier, ich spiele es dir rüber, das ist alles, was ich finden kann."
"Vielen Dank", lächle ich zurück, begebe mich zur Lesecouch und beginne, das Dokument zu studieren. 'Kriegs- und Führungstechniken vergangener Zeit.' Okay…
Jahr 52 v. Chr.: Schlacht von Gergovia (Rom - Gallier)
Jahr 9. n. Chr.: Schlacht im Teutoburger Wald (Rom - Germanen)
Jahr 451 n. Chr.: Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (Westrom - Hunnen)
In dieser Manier geht es weiter. Das ist einfach nur eine ewig lange Auflistung großer Kämpfe zwischen alten Reichen.
Aber ich finde einziges Wort darüber, wie die Menschen damals gelebt haben!
Was ist hier los?
Kommentar schreiben