Der Staat Kapitel 20

Ich frage mich jetzt ernsthaft, wieso? Hat damals etwa niemand gelebt, außer den Kriegern? Oder wie ist das zu sehen? Ich meine, warum gibt es nichts darüber, wie das Leben früher war, vor dem Staat? Schlimmstenfalls will man nicht, dass man davon erfährt. Aber wieso sollte das so sein?

Was wäre so schlecht daran, wenn man wüsste, wie die Gesellschaft damals ausgesehen hat? - Kontrolle - Ein einzelnes Wort schleicht sich ein in meine Gedanken. Kontrolle? Hä? Etwa über die Menschen? Aber wieso? Weshalb sollte die Geheimhaltung einer Information der Kontrolle von Menschen dienen?

Glaubt man etwa, die Bürger würden sich widersetzen, sollten sie es erfahren?

Hm. So überlegt… Macht es schon irgendwie Sinn… Natürlich nur unter der Annahme, dass die entsprechende Information die Menschen antreiben könnte, sich zu widersetzen. Was bedeuten würde, dass früher das Leben tatsächlich in irgendeiner, mir vollkommen unbekannten Weise, besser war, als heute…

Ich muss mit Naan sprechen!

 

"Und, wie war der Tag?", beginnt Junos ein Gespräch.

"Interessant", gebe ich kurz zurück.

"Was habt ihr heute gelernt?", hält er die Konversation am Laufen.

"Kriege, Anatomie, Psychologie und ein wenig Mechanik und Physik."

"Hat dich etwas besonders interessiert?"

Schon will ich antworten, besinne mich im letzten Moment jedoch noch. Junos ist nicht die Art von Person, mit der man über meine Fragen spricht…

"Ahm, ja. Physik. Trägheit ist eine interessante Sache."

"Da hast du Recht", stimmt er mir zu, froh, einige Worte mit mir gewechselt zu haben.

Wir steigen in den Bus, und wenige Minuten später sehe ich auch schon die Wachmänner wieder.

Die einzige Zeit, in der ich mit Naan sprechen kann, ist die Nacht. Doch wie soll er zu mir kommen können, beziehungsweise ich zu ihm - werde ich doch bewacht?

Hm, zuerst einmal die gezeichnete Karte aktualisieren. Gut, der ungefähre Weg von der Schule zu mir… ist drinnen… sowie einige größere Straßen der direkten Umgebung.

Mittagessen, Hausaufgabe, Lernen.

Naan. Wie treffe ich dich nur wieder?

Gelangweilt beginne ich ein wenig mit den Geräten in meinem Zimmer zu trainieren.

Mein Blick fällt aus dem Fenster. Hm, ich bin hier im 2. Stockwerk, somit wäre es möglich - wenn ich ein Seil hätte - hinunter auf die Straße zu klettern und so den Wachen zu entgehen. Fragt sich nur, wohin ich mich dann wenden soll?

Vielleicht zurück nach Hause? Dorthin, wo ich ihn das erste Mal getroffen habe?

Eine Option ist es, doch wie sollte er wissen, dass ich dort bin?

Es scheint so, als müsste ich warten, bis er sich bei mir meldet…

 

"Du siehst müde aus. Hast du gestern wirklich genug geschlafen?", bemerkt Junos beim Abendessen.

"Habe ich. War gerade im Zimmer trainieren", erkläre ich hungrig.

"Hast du Lust, wieder rauf aufs Dach zu gehen?", schlägt er vor, weiß, wie sehr mich das freuen würde.

"Auf jeden Fall", stimme ich unverzüglich zu.

Er lächelt.

 

Wieder hänge ich mich über die Brüstung, starre hinunter auf den Asphalt der Straße zwanzig Stockwerke unter uns.

Ich fühle mich hier oben so…frei. Nicht am Boden und nicht im Himmel, sondern irgendwo dazwischen. Frei.

 

"Hier ist es."

Eine kleine Gruppe von fünf Männer betritt ein großes, längliches Gebäude durch eine schmale, unbeleuchtete Seitentür.

Das Innere liegt ebenfalls in Dunkelheit gehüllt.

"Nach was suchen wir eigentlich hier genau?", wundert sich einer der Männer. Sie tragen alle durchwegs schwarze Kleidung, halten Waffen im Anschlag und marschieren geduckt hintereinander durch die riesige Halle voller Regale. Links und rechts türmt sich unterschiedlichstes militärisches Equipment auf.

"Nach jedem Hinweis auf die tatsächliche Existenz von 'Dragon Thunder' ", beantwortet Naan die Frage unwillig brummend.

Diese Formulierung ruft den anderen Mann, den ich damals in diesem Raum gemeinsam mit Naan und der alten Frau gesehen habe, auf den Plan - Katsu, genau. Dieser zischt leise zurück:

"Nicht nach einem Hinweis, sondern nach Plänen, Bauteilen - nach allem, das uns irgendwie helfen könnte, gegen diese Technologie zu kämpfen."

"Okay, okay. Wie könnte das aussehen?", murmelt der vierte der Männer entschlossen.

"So", meint der dritte und bewegt sich vorsichtig, gefolgt vom fünften, auf eine stabile, unscheinbare Stahltür zu, welche die Aufschrift: 'Forschungsbereich. Betreten auf eigene Gefahr!' trägt.

"Sehr gut", lobt Katsu leise, prüft das Schloss: "Abgeschlossen… Naan?"

"Sofort."

Wenige Sekunden später schwingt die Tür lautlos auf.

"Hoffe, sie bemerken nicht so bald, dass wir die Alarmanlage überbrückt haben…", murmelt Naan.

"Beeilen wir uns einfach", treibt Katsu seine Gruppe an.

 

Das…das…ahm…

Naan ist in der Nähe! - Zumindest irgendwo im Zentrum von Wien, wo sonst wäre wohl eine Forschungseinrichtung des Militärs?

"Junos, wo und was arbeitest du eigentlich, wenn du nicht gerade Spezialtraining mit den V-Klassen machst?", interessiere ich mich spontan.

"Oh", überrascht ihn meine plötzliche Frage: "Nun ja… Ich bin… Ich berate das Militär."

"Wobei?"

"Ergonomische Anforderungen von Neuentwicklungen und so weiter."

"Woran arbeitest du genau?"

"Das darf ich dir leider nicht sagen. - Aber du kannst dich auf einige coole Sachen freuen, wenn du mit der V-Klasse fertig bist", gibt er stolz schmunzelnd zurück.

"Oh, na dann gedulde ich mich eben noch ein wenig", spiele ich den Unschuldigen - sogar sehr überzeugend.

Ich könnte Luftsprünge machen! Junos ist heute Morgen etwa zwei Häuserblocks von hier vom Bus ausgestiegen! - Naan ist nahe!

Einziges Problem: Wie lange wird er dort bleiben?

Aufgescheucht springe ich auf, beginne fieberhaft auf dem Dach herumzulaufen, suche verzweifelt eine Lösung.

"Stimmt etwas nicht?", wundert sich Junos mit einem besorgten Gesicht.

"Nein, alles in Ordnung. Ich habe nur irgendwie das Gefühl, etwas tun zu müssen. Kennst du das, wenn deine Beine sich einfach bewegen wollen?"

Er lacht auf, seine Mundwinkel ziehen sich hoch: "Ja, das kenne ich. Hah."

Dann, mit einem Schlag, verstummt er mit einem Mal erschrocken.

"WAS!??!"

Haltlos stürmt er zurück zum Aufzug. Gerade so kann ich ihm folgen. Im allerletzten Moment springe ich in die Kabine.

"Was ist denn los?", teile ich unbewusst seine Aufregung.

Alles was ich zurückbekomme ist heftiges Schnaufen und Schweißperlen auf seiner Stirn.

Plötzlich besinnt er sich, brüllt als Befehl über seinen Ohrstöpsel: "Schickt sofort Männer her! - Ja, Kris ist bei mir. Er ist sicher."

Was ist denn los?"

 

"Hey, schaut euch das mal an", staunt der dritte.

Den anderen verschlägt es die Sprache. Einzig Naan haucht: "Es existiert also wirklich…"

Laut knallt es, als in der Ferne eine Tür aufgestoßen wird. Rufe hallen durch das Lager, dringen auch in den Forschungsbereich. Taschenlampenkegel schneiden durch die Dunkelheit.

Die fünf erstarren.

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