Der Staat Kapitel 21

Bei diesem Kapitel handelt es sich um einen Gastauftritt, geschrieben von Christina Mair. Es wird eine neue Figur in Form des Mädchens Tihana eingeführt.

 

Seit etwa drei Stunden sitze ich vor dem Funkgerät und warte auf eine Nachricht von Naan. Inzwischen müssten sie die Mission längst abgeschlossen haben, das Nichtstun und Herumsitzen macht mich nervös. 

Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte in meinem Zimmer auf und ab. Ich will etwas tun, ich will Naan und seinen Freunden helfen und nicht hier nutzlos herumsitzen, während ich auf ein Lebenszeichen von ihnen warte. Erneut begebe ich mich zum Schreibtisch und starre aus dem Fenster. In der Ferne kann ich die Lichter des Staates erkennen. Der Staat. Der Arbeitgeber meiner Eltern. Mein größter Feind. Hohe Mauern und ein komplexes Sicherheitssystem schützen ihn. Dagegen sind wir im Nicht-Staat fast vollkommen schutzlos. In dieser Gegend des Nicht-Staat- Gebietes – es ist eigentlich mehr ein Vorort von Wien - stehen einige kleine Häuser, alles ist recht locker. Jedoch kann keiner behaupten, er habe keine Angst, von dem Staat angegriffen zu werden. Meine Eltern selbstverständlich ausgenommen. Seit Jahren sind sie für die Lebensmittelversorgung des Staates mit Produkten aus dem Nicht-Staat-Gebiet verantwortlich, wodurch sie im Staat einen guten Ruf und viele Kontakte haben. Sie haben ein Haus, Geld, Versicherungsverträge und einige Vorteile bekommen. Solche Dinge sind in einer Gesellschaft selbstverständlich vorteilhaft, aber ich fühle mich wie gefangen in den Verlockungen des Staates. Sie geben dir Dinge und nehmen dir die Freiheit. Dafür gibt es keine Beweise, aber ich spüre es. Auch wenn meine Eltern schon geblendet von diesem ach so perfekten Leben sind, so weiß ich, dass der Staat es nicht gut mit uns meint. Ich bezweifle sehr, dass meine Eltern einfach so kündigen oder umziehen könnten, nur eine einzige Beschwerde gegen den Staat könnte ihnen vermutlich das Leben kosten. Frei ist hier in diesem Vorort keiner. Manchmal frage ich mich, ob sie jemals anders waren, ob sie jemals wirklich frei gedacht haben. Darauf habe ich keine Antwort und ich hasse den Staat aus tiefstem Herzen dafür, dass er meine Eltern zu den stummen Marionetten gemacht hat, die sie heute sind.

Doch Naan ist anders. Eines Tages, als ich wieder trotzig auf einer Wurzel im Wald gesessen bin, leise den Staat verflucht habe, kam er. Zuerst bin ich erschrocken, da ich gedacht habe, er sei ein Angestellter des Staates. Doch dann habe ich erkannt, dass er so denkt wie ich. Dass in ihm der selbe Freiheits- und Gerechtigkeitsdrang schlummert wie in mir. Ich würde diese Begegnung fast als Schicksal bezeichnen, wenn es soetwas geben würde. Seit jenem Tag habe ich angefangen, zu hoffen. Ich habe erkannt, dass es auch einige andere Menschen gibt, die so denken wie Naan und ich. Wir wollen etwas verändern. Wir können etwas verändern, davon bin ich überzeugt. Seit meiner Geburt hat man mich Gehorsam gelehrt, aber etwas in mir hat still dagegen protestiert. Und jetzt habe ich endlich Gleichgesinnte gefunden. Es ist kein leichter Weg, wir müssen extrem vorsichtig sein. Doch Naan hat mir immer Mut gemacht, er ist wie ein Vater für mich geworden. Ich kenne nicht viele seiner Freunde, doch diejenigen, die ich kennen gelernt habe, sind zu einer zweiten Familie für mich geworden. Aber jetzt...

Jetzt sitze ich hier gefangen in meinem Zimmer, ohne irgendein Zeichen von ihnen. Ich fixiere das Funkgerät mit meinem Blick, in der Hoffnung irgendetwas würde passieren. Nichts. Langsam fallen mir die Augen zu und ich versinke im Land der Träume.

"Tihana?", höre ich in der Ferne. "Tihana!" Erschrocken wache ich auf und nehme sofort das Funkgerät in meine Hand.

"Ja, Emi?", sage ich hoffnungsvoll: "Was ist los?"

"Code Delta 5, Omega 9 und 7, Grebnief Sirk. Over." Ich kann mir gerade noch die Codes notieren, da bricht die Verbindung mit Naans Freundin – der Anführerin der Nichtstaatler – ab. Verdammt. Sofort schlage ich mein Notizbuch auf, in dem ich die wichtigsten Codes aufgeschrieben habe. Code Delta 5: Gefangennahme, keine Hinweise. Das bedeutet Naan und seine Freunde könnten noch leben, doch genauso gut könnten sie tot sein. Nein, das ist unmöglich. Ein Irrtum. Sie haben sich doch so gut vorbereitet! Leise beginne ich zu schluchzen. Der Gedanke, dass die Menschen, die mir am meisten bedeuten, tot sein könnten, zerreißt meine Seele. Unkontrolliert laufen die Tränen über meine Wangen. Aber dann denke ich an Naan. Was würde er tun? Er würde sicherlich nicht einfach so herumsitzen und weinen. Hastig wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und wende mich dem zweitem Code zu. Omega 9 und 7: Informant im Staat, nicht ganz vertrauenswürdig - unter Überwachung. Das sind spärliche Informationen, aber vielleicht kann mir dieser Informant weiterhelfen. Seine Name wäre dennoch hilfreich... Vermutlich ist er der Einzige der mir etwas über Naans Zustand sagen kann.

Es gibt nur einen Weg. Ich muss in den Staat reisen und diesen Informanten finden. Besser gesagt, ich muss irgendeinen Weg in den Staat hineinfinden, unentdeckt bleiben und alle Informationen über Naan besorgen. Ich sehe auf die Uhr. Es ist 4:32. In weniger als einer Stunde werden meine Eltern aufstehen. Das bedeutet ich habe nur sehr wenig Zeit, um mir einen Plan auszudenken und den letzen Code "Grebnief Sirk" zu entschlüsseln. Als erstes brauche ich eine Transportmöglichkeit in den Staat, am besten eine sehr unauffällige, da jeder Winkel der Straßen von und nach Wien überwacht wird. Als zweites muss ich das Sicherheitssystem knacken, beziehungsweise an den Wachleuten vorbeikommen, was sehr schwierig werden könnte. Und als drittes muss ich im Staat unerkannt bleiben. Seuftzend ziehe ich den Rucksack unter dem Bett hervor und fülle ihn mit Proviant, der Funkausrüstung, den paar Kopien von Plänen, welche er vom Staat angefertig hat, und einem Messer. Ich habe noch etwa vierzig Minuten. Bis dahin sollte ich mir einen Plan ausgedacht haben. Grüblend setze ich mich auf den Boden und gehe alle Möglichkeiten durch. Ich kann es unmöglich alleine in den Staat schaffen, ich brauche jemanden, der mir hilft. Aber wen? Der Funkkontakt zu Emi ist abgebrochen, Naan und seine Leute sind im Staat, zu anderen Freunden von Naan habe ich ohne ihn keinen Kontakt. Lange gehe ich alle verbleibenden Optionen und Wege durch, bis ich schließlich ansatzweise einen Plan habe. Er ist riskant, aber ein riskanter Plan ist immer noch besser als kein Plan.

Inzwischen ist alles vorbereitet, mir bleiben noch zehn Minuten bis meine Eltern aufstehen werden. Gelassen bereite ich wie jeden Tag das Frühstück vor. Nur, dass ich diesmal ein wenig von Vaters Abführmittel sowie einige Tropfen des Schlafmittels dazumische.

"Aufstehen! Frühstück ist fertig!", rufe ich.

Müde kommen sie in die Küche und essen alles auf, was ich zubereitet habe.

Ich wende mich schon zum Gehen, da meint meine Mutter zu meinem Vater: "Irgendwie ist mir schlecht. Ruf an, ich kann heute nicht zur Arbeit kommen."

"Ja, mir geht es auch nicht gut. Hoffentlich haben wir uns nichts eingefangen...", antwortet dieser und greift zum Telefon.

"Viel Spaß in der Schule", verabschiedet sich meine Mutter noch von mir.

"Gute Besserung", gebe ich zurück. Ich kann mir ein Lächeln nur schwer verkneifen. Langsam schleiche ich nun hinauf ins Schlafzimmer meiner Eltern. Aus dem Kleiderschrank hole ich vorsichtig die Arbeitskleidung meiner Mutter heraus und ziehe sie leise an. Es fühlt sich grässlich an, Kleidung des Staates, Kleidung für den Staat tragen zu müssen. Aber ich tue es für Naan. Und Naan ist es wert.

Ein letzter Blick in die Küche. Meine Eltern sitzen schlafend da, die Köpfe auf den Tisch gelegt.

 

Nachdem ich das Haus verlassen und alle Spuren verwischt habe, fühle ich mich stark. Doch dies ist erst der Anfang. Ich habe beschlossen mich auf keine Komplizen, sondern nur auf mich selbst zu verlassen. Mein Gesicht unter einer Fassade von Schminke und unter der Mantelkapuze versteckt, mache ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Um diese Uhrzeit stehen nur drei Männer und eine Frau da. Glücklicherweise scheinen sie alle zu müde für eine Unterhaltung zu sein. Alle vier sind sie Angestellte des Staates, monoton wünschen sie mir einen guten Morgen. Ich erwidere den Gruß, in der Hoffnung, dass meine Stimme wie die meiner Mutter klingt. Tatsächlich heben sie etwas misstrauisch die Braue, aber nachdem ich einen leichten Hustenreiz vortäusche, wenden sie sich wieder gelangweilt ab. Eine Minute später erreicht auch schon der halbleere Bus die Haltestelle und wir steigen ein. Meine Reise in den Staat beginnt. Werde ich es schaffen?

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