Der Staat Kapitel 22

27. April 2062, 8:01, Wien

 

"Guten Morgen!", begrüßt uns unser Klassenvorstand mit ernster Miene: "Setzt euch."

Stumm tun wir, was er sagt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, irgendetwas ist anders, irgendetwas hat sich verändert. Und Veränderung ist etwas Schlechtes im Staat.

"Die Sache ist die", setzt er an: "Gestern Abend sind wir angegriffen worden. Der Staat ist angegriffen worden. Und wer sich mit einem von uns anlegt, bekommt uns alle zu spüren. Ihr seid die V-Klasse, ihr werdet für genau solche Fälle ausgebildet. Obwohl wir alles Mögliche getan haben, dies zu verhindern, ist es nun doch geschehen." Eine lange Pause entsteht. Tief atmet er durch.

"Euch wird es gefallen." Ihm wohl eher nicht… "Unser Budget ist mit der Anweisung, mehr Praxis zu lehren, erhöht worden. Es ist beschlossen worden, heute Spezialunterricht zu halten." Erstauntes Aufraunen geht durch die Klasse.

"Und nicht irgendein Spezialunterricht. Nein, heute werdet ihr zusammen mit Leuten des V-Kommandos durch die Stadt patrouillieren und sie während ihrer Arbeit begleiten."

So schnell kann sich Erstaunen in Freude wandeln.

"Also dann, alle mitkommen", kommandiert der Klassenvorstand.

In einer geordneten Zweierreihe führt er uns hinunter auf den Schulhof, wo wir auch schon erwartet werden.

Aufgestellt in zwei sauberen Linien, die halbe Breite des Schulgebäudes Nummer 37 entlang, ausgestattet mit Dingen, die ich noch nie zuvor gesehen habe, stehen sie da, die Männer und Frauen des V-Kommandos. Ihre Blicke gehen starr durch ihre Helmvisiere und uns hindurch in die blanke Betonmauer der Schule. Hinter ihnen parken diese massiven, schwarzen Autos mit großen, breiten Reifen. Jeweils drei V-Leute scheinen zu einem Fahrzeug zu gehören.

Carik, ebenfalls voll ausgerüstet, doch ohne Helm tritt vor: "Verehrte Schüler der V-Klassen! Aufgrund jüngster Ereignisse gibt es einige Veränderungen in eurem Stundenplan. Aber darüber sollten eure Lehrer euch bereits informiert haben. Wichtig ist, dass sich nun jeweils drei nebeneinanderstehende Schüler zum direkt vor ihnen parkenden Fahrzeug begeben. Alles Weitere erfahrt ihr vom jeweiligen Truppführer. Wir beginnen mit den ersten drei: Milet, Kris, Aran!"

Oha…

Aran und Milet…

Na das kann ja was werden. Ich kann Milet schon verstehen, Aran ist hochnäsig und überheblich, aber bedeutet das sofort, ihn hassen zu müssen?

Wie dem auch sei…

Mit Überraschung bemerke ich, Carik in den ersten Wagen, auf den ersten Beifahrersitz, in der ersten Reihe, steigen. Bedeutet das etwa, der Kommandant des V-Kommandos selbst ist unser Truppführer?

Gleich darauf nimmt eine Frau neben ihm Platz und ein Mann schwingt sich hinters Lenkrad.

Wir drei machen es uns auf der Rückbank gemütlich.

"Sitzt ihr bequem?", will der Fahrer freundlich doch absolut sachlich erfahren.

Drei Köpfe nicken.

"Dann bring uns zur Grenze", befiehlt Carik.

Schon setzen wir uns in Bewegung, direkt hinter uns folgen die restlichen Wagen.

An fast jeder Kreuzung biegen die jeweils letzten Fahrzeuge ab. Offensichtlich haben sie ein anderes Ziel. Wir können ja schließlich nicht alle im gleichen Gebiet üben.

Nach etwa zehn Minuten Fahrt sind wir am Ziel angekommen und haben auch keine anderen Autos mehr hinter uns.

Damit wären wir in der elften Ringstraße, schon recht nahe am Rand von Wien.

Der Kommandant des V-Kommandos beginnt zu erklären: "Unsere Heimat wird an der Außengrenze durch eine Reihe von durchdachten Sicherheitsanlagen geschützt. Um exakt zu sein, handelt es sich von außen nach innen zuerst um einen elektrisierten Maschendrahtzaun mit reichlich Stacheldraht, dahinter kommen ungefähr 20 Meter Freiraum. Hier wird jeder Zentimeter von Infrarot- und Erschütterungssensoren abgetastet. Videoüberwachung ist überall Standard. Nach diesem Freiraum kommt ein weiterer Stacheldrahtzaun, und zwei Meter hinter diesem befindet sich eine etwa fünf Meter hohe Betonmauer, auf der die Männer und Frauen des Militärs patrouillieren. Noch einmal etwas weiter hinten kommt anschließend eine Reihe von Wachtürmen, hier sind die Leute des V-Kommandos postiert. - Wie ihr seht, sollte es eigentlich unmöglich sein, einzudringen."

Sprachlos sitze ich da. Naan ist da durchgekommen. Mehrmals.

Okay…

"Jede Zufahrtstraße nach Wien wird zusätzlich durch regelmäßige Patrouillen sowie mehrere Grenzposten abgesichert. Niemand kommt unregistriert rein oder raus", fährt Carik fort: "Wir werden nun genau einen solchen Grenzübergang besichtigen."

Als wäre diese Ausführung perfekt geplant, biegen wir genau jetzt ab. Schlagartig enden die Häuser, weichen einer Grünfläche. Die Betonmauer mit den Soldaten kommt in Sicht. Links und rechts von uns kann ich in etwa zweihundert Meter Abständen zueinander die Wachtürme erkennen. Einzig bei dem Tor direkt vor uns erhebt sich je ein Turm zu beiden Seite der Straße.

Zwei bewaffnete Männer treten aus einem Wachhäuschen, halten unser Fahrzeug an. Der Reihe nach müssen wir aussteigen.

"Irisscan, Fingerabdrücke, bitte", fordert einer der beiden Wächter.

Trotz der Tatsache, dass wir uns in Begleitung der wohl vertrauenswürdigsten Person des Staates befinden, diese Kontrolle?

Das - nenne - ich - dann - mal - Sicherheit.

"Alle sauber", meint die zweite Wache nach einem Blick auf ihr Tablet, wo er unsere Gesichter mit den Fotos abgleicht. Unsere Identität wurde überprüft, wir sind sicher.

"Folgen Sie mir bitte", winkt uns der erste Wächter hinter sich her. Natürlich weiß er über den Spezialunterricht Bescheid.

Er führt uns in ein graues Gebäude, welches sich in den Schatten der Mauer duckt. Im seinem Inneren befindet sich eine Vielzahl von Computern und Monitoren, sowie vier ausgedruckte Zettel mit Fotos verschiedener Personen. In großen roten Buchstaben steht auf jedem dieser Blätter geschrieben: "Gesucht. Unbewaffneten Kontakt unter allen Umständen vermeiden."

Zwei Männer, eine Frau - sie kommt mir bekannt vor… - Emi, und…

Ein Mädchen. Rote lange Haare. Ein feines, blasses Gesicht mit nachdenklichen, aufgeweckten, abweisenden blauen Augen. Ihr Alter und Name stehen unter dem Foto: 16, Tihana.

Ungewöhnlicher Name. Hübsch. Sie ist ein Jahr jünger, als ich…

"Sind…sind das alles Feinde?", will ich wissen, deute auf die vier Fotos.

"Die schlimmsten, gefährlichsten und unberechenbarsten", nickt Carik, tritt näher an die Fahndungsplakate heran: "Dieses Mädchen hier zum Beispiel: Es hat seine Eltern betäubt, die Kleidung seiner Mutter gestohlen und ist gerade wer-weiß-wohin unterwegs. Die Familie lebt etwa drei Stunden mit dem Auto von hier entfernt."

Also wirklich weit weg…

Tihana. Irgendetwas liegt dort in ihren Augen verborgen. Nicht nur ihr Name sagt mir, dass sie etwas Besonderes ist.

Von der offen stehenden Tür her vernehme ich die Geräusche eines Busses. Er kommt von außerhalb.

 

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