Der Staat Kapitel 23

27. April 2062, 8:29, Süd-Grenzübergang, Wien

Mit einem Wink sendet der Wachmann einen Kollegen hinaus, den Bus zu überprüfen, während er selbst sich hinter einen der Bildschirme klemmt.
Nach zwei Mausklicks und dem schleifenden Geräusch eines Druckers reicht der Wachmann Milet, Aran und mir je ein Stück Papier mit unserem Foto darauf.

"Besucherausweise, macht sie gut sichtbar an eurer Kleidung fest." Er erhebt sich, meint: "So, dann zeigen wir euch jetzt einmal, wie das hier bei uns so abläuft. Folgt mir bitte."
Er führt uns zurück hinaus ins Freie. Lautlos gleiten die einzelnen Tore vor uns auf, schließen sich direkt hinter uns wieder.
Der Bus hält vor dem ersten Maschendrahttor. In Reih und Glied steigen die Insassen aus, nehmen entlang des Busses Aufstellung, die Arme links und rechts am Körper, die vereinzelten Aktenkoffer direkt neben dem rechten Bein. Vier Soldaten unter der Führung eines V-Mannes machen sich nun, genauso wie bei uns vorhin, daran, die Fingerabdrücke und Iris zu kontrollieren.
Ruhig und gelassen lassen all die Arbeiter und Staatsangestellten das Prozedere, so wie vermutlich jeden Tag in der Früh, über sich ergehen.
So bewegungslos, starr geradeaus in die Ferne blickend, wie sie alle dastehen, fällt diese eine Frau umso mehr auf. Wenn sie sich auch nur ein wenig mehr nach vorne lehnt, als die gut fünfzig anderen, so fällt sie trotzdem aus dem Schema. So plötzlich, wie sie aus diesem Muster gebrochen ist, so schnell ist sie schon wieder drinnen. Es scheint, als wären diese Frau und ich die einzigen, die es bemerkt haben.
Von meinem Blickwinkel aus kann ich es nicht genau erkennen, aber es wirkt außerdem so, als wäre dieser Frau ihre Kleidung ein wenig zu groß, nur eine winzige Spur zwar, doch bemerkbar, wenn jemand darauf achten würde außer mir. Wir bewegen uns unter der Führung des Wachmannes immer weiter auf das erste Tor zu. Auch ihr Rucksack passt nicht wirklich zum Rest von ihr. Sicher, einen Rucksack tragen viele Menschen und selbst wenn es sich hier um einen durchaus eleganten, schwarzen handelt, so stimmt die Kombination mit der adretten Kleidung einfach nicht so ganz, erneut geht es gerade um diese eine Spur des Erkennens.
Die Kontrolle schreitet voran. Die Frau steht relativ weit hinten in der Reihe, scheint langsam nervös zu werden… Auch hier ist es nur, dass sie ihre Finger kurz anzieht, den Kopf für den Bruchteil einer Sekunde leicht zur Seite legt und einmal zu oft blinzelt.
Dafür erntet sie einen misstrauischen Seitenblick des V-Mannes. Jener schreitet bedächtig und bedeutungsvoll zu ihr hin. Unschuldig erwidert sie seinen bohrenden Blick, der mich sogar auf diese Distanz und nicht einmal Adressat seiend einschüchtert, mich meine Schultern anziehen lässt.
"Heinz!", ruft der V-Mann einen der Soldaten herbei, befiehlt bedrohlich leise, ja schon fast schadenfroh grinsend: "Kontrollieren, sofort."
"Jawohl", kommt es von Heinz zurück, der die Hacken zusammenschlägt, salutiert und seines Amtes waltet, dieser Frau den Scanner hinhält, sodass sie ihren Zeigefinger darauflegen kann. Abwesend, an irgendetwas anderes denkend, tut sie, was man von ihr verlangt. Keine halbe Sekunde nachdem ihre Fingerspitze die Glasoberfläche des Scanners berührt hat, beginnt ein Lämpchen wie wild rot zu blinken.
Erschrocken starrt der Soldat die Frau an.
Diese zuckt einfach nur lächelnd mit dem Kopf nach rechts, blinzelt.
Mit einem Schlag läuft die Welt scheinbar nur noch in Zeitlupe ab.
Sie packt Heinz an den Schultern, zieht ihr Knie hoch. Getroffen geht er vor ihr zu Boden. Dann greift sie hinunter nach ihrem Rucksack, bringt mit der anderen Hand ein Messer zum Vorschein, hechtet unter dem Griff des V-Mannes durch, setzt einen tiefen Schnitt gegen seine Kniekehle und sprintet los in Richtung Donau, welche dort irgendwo östlich in der Ferne fließt.
Das alles läuft ab, während ich es gerade einmal schaffe, von Carik in die Deckung einer kleinen Wachhütte gerissen zu werden.
Plötzlich ertönt ein ohrenbetäubender Knall. So laut, dass ich nichts Anderes tun kann, außer erschrocken zu Boden zu stürzen und mir die Hände auf die Ohren zu pressen.
Benommen bemerke ich gelbliche Lichtblitze von den Wachtürmen her. Laut knallend lösen sich die Schüsse.
Dann bedeckt eine sich rasch ausbreitende, dunkelgraue Rauchwolke den gesamten Bereich des Grenzüberganges.
Neben mir höre ich den Wachmann funken: "Eindringling am Südgrenzübergang. Brauchen sofort Verstärkung und medizinische Hilfe!"
"Noch so eine von dieser Sorte", knurrt Carik.
"Wie?", murmelt sein Sohn irritiert.
"Ich habe euch ja erzählt, wir wurden gestern Abend angegriffen. Da haben sie genau denselben Rauch verwendet, um abzuhauen und unterzutauchen. Wir können bei dieser Windstille mit mindestens zehn Minuten ohne Sicht auf irgendetwas rechnen. Nicht einmal Infrarotscanner kommen durch diesen Nebel", brummt er.
Interessanterweise kann ich noch immer normal atmen, wie keineswegs erwartet, muss ich nicht husten, auch kratztdieser Rauch nicht in Rachen oder Lunge. Man sieht einfach keine zehn Zentimeter weit.
Irgendwo in der Ferne ertönt die rasch näher kommende Sirene eines Krankenwagens.

"Bitte was?" Ungläubig starrt Carik den Soldaten Heinz an: "Das ist doch jetzt wohl nicht Ihr Ernst, hoffe ich?"
"Herr Kommandant, es ist, wie ich es sagte, diese Person war Tihana Weißmann", beteuert Heinz.
"Sie meinen dieX Tihana Weißmann, deren Eltern heute Morgen, nachdem sie nicht in der Schule aufgetaucht ist, betäubt in ihrer Wohnung aufgefunden worden sind?", wiederholt Carik die Aussage des Soldaten.
Dieser kann daraufhin nur nicken. Im Hintergrund beginnt soeben die geordnete Evakuierung der Zivilisten aus dem Bereich des Grenzüberganges.
"Wurde also unsere Sicherheit gerade von einem SECHZEHNJÄHRIGEN Mädchen durchbrochen?!", erzürnt der Kommandant des V-Kommandos.
Erneut folgt nur stummes Nicken, diesmal begleitet von einem gesenkten Blick seitens aller Umstehenden.
"Aber sie ist doch gar nicht hereingekommen?", wirft Aran ein.
So hastig wie sein Vater sich nach ihm umdreht, könnte man meinen, er wolle ihn…
Aran zuckt erschrocken zurück.
Ich habe noch nie einen Menschen mit einem Gesichtsausdruck, auch nur irgendwie dem jetzigen Cariks ähnlich, gesehen.
Zum Glück besinnt dieser sich schnell genug, lässt seine Wut nicht an uns Schülern aus.
"Das mag sein, Aran", kommentiert Carik gezwungen beherrscht: "Aber nun läuft eine unberechenbare Person in nächster Nähe zum Staat herum. Und es ist unsere Aufgabe, dass nichts und niemand auch nur die Möglichkeit bekommt, dem Staat zu schaden."
Carik dreht sich zurück zu seinen Männern, befiehlt verbittert: "Findet sie. Aber lebend. Wir müssen wissen, was sie vorhat."
Kollektiv wird salutiert. Genau in diesem Moment knattert irgendeine Flugmaschine über unsere Köpfe hinweg. Noch nie zuvor habe ich so etwas gesehen.
Alles, was dem V-Kommando Kommandanten dazu einfällt, ist ein überraschter, wenn nicht sogar erschrockener Blick.
"Wer von euch * hat diesen Helikopter bestellt?!!", fährt Carik die Umstehenden an.
Niemand antwortet. Es erscheint tatsächlich so, als wäre es niemand der Anwesenden gewesen.
Auf einmal vernehme ich einen Funkspruch über meinen Ohrstöpsel: "An alle Personen am Grenzübergang Süd: Bleiben Sie auf Position und warten Sie auf weitere Anweisungen. Ab nun ist dies Sache der Regierung. Weitere Truppen des V-Kommandos sind unterwegs. Ende."
Resigniert schnaubt Carik auf, dann blitzt etwas in seinen blaugrauen Augen. Er funkt zurück: "Erbitte Erlaubnis, bei der Suche behilflich sein zu dürfen." Seiner Haltung nach zu urteilen, hat die Regierung nichts dagegen.
Dann setzt er sich in Bewegung, stürmt im Eilschritt auf sein Fahrzeug zu: "Müller und Hunibald, einsteigen, wir fahren!"
Sofort rühren sich der Mann und die Frau vom V-Kommando, welche mit uns hergefahren sind.
Carik öffnet gerade die Tür, steigt hinauf auf den Fahrersitz, meint über die Schulter gefühlslos auffordernd: "Was ist los? Milet, Kris, Aran? - Kommt ihr, oder nicht?"

 

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