27. April 2062, 8:43, Graslandschaft südlich von Wien
Die Motoren brummen los. Vier Wagen des V-Kommandos rollen durch das Maschendrahttor hinaus aus dem Staat, über das Grasland hin in Richtung Donau.
Sie kann noch nicht weit sein. Ein Problem sehe ich nur auf uns zukommen: Keine zweihundert Meter von der Grenze entfernt beginnt ein Wald, in den man gerade so die ersten zehn bis zwanzig
Schritte weit hineinsehen kann. Dahinter wird er zu dicht und damit zu schattig.
Tihanas Spuren im hohen Gras führen genau darauf zu.
Cariks Gesichtsausdruck versteinert, als er sich gezwungen fühlt, den Wagen am Waldrand zu parken. Für einige Momente sitzt er nur stumm da, starrt geradeaus, direkt in das Dickicht hinein.
"Los, raus. Schnappt euch die Infrarot-Scanner. Wir suchen sie zu Fuß", befiehlt Carik uns, sowie gleichzeitig den anderen V-Leuten in den Fahrzeugen hinter uns: "Zwei von euch bleiben hier und
bewachen die Fahrzeuge, der Rest von euch teilt sich in Dreiergruppen auf und beginnt die Suche. - Wir folgen ihren Spuren und durchforsten auch die komplette Umgebung", brummig fügt er
verbittert hinzu: "Wer weiß, wohin die unterwegs ist."
So steigen wir also aus. Man drückt uns ein kleines Gerät in die Hand, auf dem Display werden die Menschen in der Umgebung als kleine blaue Punkte aus der Vogelperspektive dargestellt.
Carik winkt einen umstehenden V-Mann und mich zu sich und verkündet für alle hörbar: "Wir bilden die erste Gruppe. Teilt euch auf!"
Wie befohlen wird gehandelt, die Leute des V-Kommandos, Milet, Aran und ich machen uns auf den Weg hinein in den Wald.
Keine Zwei Schritt weit auf dem weichen Boden gegangen, zieht der V-Mann vor mir ein langes, großes Messer aus seinem Rucksack und beginnt, uns den Weg frei zu hacken. Etwas weiter nach links und
rechts von mir, geschieht dasselbe.
In mehr oder weniger Gleichschritt dringen wir ein in den Wald, arbeiten uns weiter voran, immer der Spur von umgeknickten Ästen und Fußabdrücken im Erdboden folgend.
"Hm, wie erwartet, sie bewegt sich nach Osten", murmelt Carik nach einem Blick auf das Display seines Scanners.
"Ich weiß, dass dort die Donau liegt, aber wieso kann sie genau dorthin wollen?", wundere ich mich.
"Keine Ahnung, vielleicht denkt sie, über den Fluss käme sich leichter in den Staat", überlegt er laut: "Oder aber sie war nur ein Späher und kehrt zurück zu ihren Kameraden. Eventuell wird sie
mit einem Boot abgeholt…"
"Möglich ist alles", kommentiert der V-Mann vor uns mit zusammengebissenen Zähnen, dessen Stimme man entnehmen kann, eine solche Art von Tätigkeit nicht gewohnt zu sein. Nichtsdestotrotz kommen
wir relativ zügig voran, bislang jedoch ohne irgendein vernünftiges Ergebnis, abgesehen von Tihanas Spuren - so heißt sie, wenn ich mich recht erinnere.
"Wie kann es sein", drückt Carik genervt einen widerspenstigen Ast aus dem Weg: "dass dieses Mädchen sich hier so schnell bewegen kann?"
Darauf kann ich nur mit den Schultern zucken.
Von etwas weiter links hinter einer Wand aus Gestrüpp kommt von einer Frau des V-Kommados zurück: "Vielleicht ist sie es gewohnt?", fügt bei Gelegenheit hinzu: "Wissen wir überhaupt, wo sie
herkommt?"
"Aus dem kleinen Vorort, drei Stunden südlich von hier. Dort wo die Staatsangestellten wohnen, die für unsere Nahrungsversorgung zuständig sind. Ihr Vater ist Verwalter des Vorortes, ihre Mutter
koordiniert die Logistik", erwidert Carik zwischen zwei schweren Schritten, beides Mal zerbersten mit einem scharfen Knacken einige dünne Äste.
"Bei diesem Tempo holen wir sie nie ein", fasst der V-Mann vor mir ernüchtert die Situation zusammen, schlägt mutig zwischen zwei Hieben vor: "Der Helikopter hat doch viel bessere Chancen, sie zu
finden."
"Nein! Wir - werden - sie - finden!", bestimmt Carik urplötzlich aufbrausend mit einer Entschlossen- und Bestimmtheit, die vermuten lassen könnte, dass sein Leben davon abhängt.
Wir treten hinaus aus dem Dickicht, stehen von einem Moment auf den anderen auf einer kleinen Lichtung. Hier dringen endlich wieder etwas mehr als nur eine Handvoll Sonnenstrahlen durch die
Blätterdecke.
"Seht!", macht Milet uns aufmerksam, läuft in die Mitte der Freifläche, deutet auf den Boden im Schatten eines großen Laubbaumes.
"Hier ist sie ausgerutscht und mitten in den Matsch gefallen", steuert ein V-Mann desinteressiert bei.
"Also ich glaube eher, dass sie es absichtlich getan hat", wiederspreche ich bei näherer Betrachtung der schlammigen Stelle: "Immerhin, wenn man die Breite der Spur bedenkt, hat sie sich
vermutlich darin sogar herumgewälzt."
"Tarnung. - Die erste Wahl in der Defensive", murmelt der V-Mann aus meiner Gruppe missmutig.
"Weiter!", treibt Carik uns voran: "Wir müssen sie finden!"
Zurück ins Halbdunkel des Waldes, zurück zu mühselig langsamem Vorankommen, zurück in diese nun noch größere Anspannung. Wüsste ich nicht, dass der Wind durch die Blätter fährt, ich würde ihr
Rascheln für das Knistern ebenjener Spannung in der Luft halten.
Irgendwo in der Ferne hören wir den Helikopter kreisen, über Funk geben sie durch: "Wir haben hier einige Wärmesignaturen. Sie zerteilen sich in alle Himmelsrichtungen. Überprüft das mal."
Wiederwillig gibt Carik das Kommando, das Tempo zu erhöhen. Trotz allem dürfen wir Tihanas Spur nicht aus den Augen verlieren.
Die Wegfreiräumer werden durch ihre Hintermännern beziehungsweise -frauen ausgetauscht, frisch macht man sich ans Werk. Laut krachen die Messer in die Zweige, birst Holz, tut sich der Weg vor uns
Stück für Stück weiter auf.
Erneut meldet sich die Besatzung des Helikopters: "Wir müssen kurz auftanken. Ein neuer Heli kommt in einer halben Minute an."
"Bestätige. Over", antwortet Carik.
Schweigen legt sich über die Truppe, melodisch gleichmäßig, als scheinbar einziges Geräusch in diesem Wald, schwingen die Zuvordersten ihre langen schweren Messer. Mittlerweile meine ich fast,
schon mehrere Tage hier zwischen all den Bäumen zu sein, ein Blick auf meine Uhr verrät mir, es waren nur etwas mehr als zwanzig Minuten.
Schon knattert der neue Helikopter an, beginnt über dem Wald zu kreisen, zu suchen.
"So langsam kommen wir der Sache näher", murmelt Carik nach weiteren fünf Minuten Stille nachdenklich, greift sich einen abgerissenen Stofffetzten von einem umgeknickten Ast.
"Meinst du, das gehört ihr?", will ich bestätigt haben.
Er nickt nur stumm.
"Aber wir fallen zurück, wenn ich das sagen darf", ergänzt der V-Mann während er den fraglichen Ast genauer unter die Lupe nimmt: "Er ist schon relativX trocken."
"Wo kann sie bloß hinwollen?...", murmelt Carik in Gedanken versunken.
"Wenn sie in Richtung der Donau unterwegs ist, wieso lauern wir ihr nicht irgendwo am Ufer, flussaufwärts, auf?", beschwert Aran sich durch das Gestrüpp hindurch.
Viel gibt es von Seite seines Vater nicht zu sagen, außer: "Weil wir eben nur vermuten können, wo sie genau hinwill. Fest steht aber, dass wir sie gefangen nehmen müssen. Eine solche Gefahr darf
nicht frei umherlaufen. Punkt. - Außerdem, wird der Fluss ohnehin schon schwer bewacht."
Genau in diesem Moment ertönt es über unsere Ohrstöpsel: "Helikopter an Bodentrupp. Wir haben hier eine Spur. Direkt unter uns befindet sich eine Wärmequelle und soweit es unsere Kamera durch die
Blätter erkennen kann, handelt es sich um einen Blazer. Die Position ist auf euren Scannern vermerkt."
"Hey", stößt Aran hervor: "Das ist doch keine hundert Meter nördlich von uns!"
Alle Augen ruhen auf Carik.
"Wir teilen uns auf, eine Gruppe nämlich ihr da ganz rechts, verfolgt die Spur weiter, während der Rest sich Richtung Norden aufmacht."
Erneut hoch motiviert schlagen wir uns voran. Keine zwei Minuten später finden wir, was wir gesucht haben: Tihanas Blazer liegt dort zwischen den Wurzeln eines großen Baumes, schlammverschmiert
und zerrissen.
"Komisch", fällt Carik auf: "Die Spur kommt von Südosten - sie muss also irgendwo umgedreht haben - führt aber von hier nirgendwohin…"
"Was, wenn das gar nicht ihrer ist?", schlägt einer der V-Männer schwarzseherisch vor.
"Wer außer ihr sollte denn bitte in diesem Wald mit eine Blazer der Staatsangestellten herumlaufen?", halte ich sachlich dagegen.
"Ja. Aber wo ist sie?", wiederholt Aran die Frage mit Nachdruck, die uns alle schon seit wir diesen Wald betreten haben, in den Köpfen pocht.
Irgendwo hinter über mir knackt etwas. Ganz leise nur, es ist mehr das Gefühl, dass es ein Geräusch von dort gibt, als der Schall selbst, das mich aufmerksam macht.
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