Der Staat Kapitel 26

27. April 2062, 10:13, Wien, V-Kommandohauptquartier

"Öffnet das Tor. Tihana Sansamann wird zur Befragung überführt", gibt der Beifahrer über Funk durch.
Das Mädchen zwischen Carik und mir starrt stumm geradeaus durch die Windschutzscheibe auf das mächtige Stahltor, welches sich soeben geräuschlos zur Seite schiebt. Leicht wippt eine Strähne ihrer Haare, als wir erneut anfahren und auf den Platz rollen, reflektiert rötlich glänzend das Sonnenlicht.

Unverzüglich steht ein ganzer Trupp V-Kommadomitglieder bereit, sie in Empfang zu nehmen. Harsch packt sie je ein Mann am linken und rechten Arm, eine Frau überprüft die Handschellen. Dann zerrt man sie davon, schleifen die Beine der sich wehrende Tihana über den harten Betonboden. Erbarmungslos wird sie zu einem zweistöckigen Gebäude rechts des Tores gebracht. Grauer Sichtbeton und dicke Stahlgitter vor den mehrfach sicherheitsverglasten Fenstern sind sein einziger Schmuck, so man es so nennen darf...
"Was...", murmle ich verängstigt, öffne wie in Trance die Tür, steige wackelig aus. Sie ist doch nur ein Mädchen... Ich...
Etwas glitzert in meinen Augen, meine Sicht verschwimmt, als wäre ich unter Wasser. Was ist das?
Entgeistert starren mich die Umstehenden an. Entsetzen zieht tiefe Furchen zwischen ihre Augen. Im letzten Moment nimmt Carik mich beiseite, schiebt mich sanft, doch bestimmt zurück zum Wagen.
"Wir fahren", bestimmt er kühl mit einem unbestimmten Blick gen Himmel. Wer hätte gedacht, dass eine simple Unterrichtsexkursion so dermaßen schieflaufen kann?
"Aber...", wiederspreche ich schwach.
"Ich sagte - wir fahren", wiederholt er sich selbst, diesmal mit genug Nachdruck, eine ganze Häuserfront zu verrücken.
Gegen den Drang zu gehorchen ankämpfend, bleibe ich plötzlich wie angewurzelt stehen.
"Kris?", beginnt Cariks Stimme unbewusst zu drohen, knurrt: "Wärst du jetzt bitte so gut, einzusteigen?"
"Ich...", beginne ich, etwas Feuchtes tropft von meiner Nasenspitze auf den Boden vor mir, hinterlässt einen dunklen Fleck: "Ich...", setze ich erneut an, verstumme wieder, schlucke schwer. Dann drücke ich meinen Rücken durch, ziehe die Schultern nach hinten, richte den Kopf auf, blicke Carik uneingeschüchtert direkt in die kalten, befehlenden Augen, lasse meinem Mund gesteuert von meinen Gefühlen freien Lauf: "Ich werde nicht zulassen, dass ihr irgendetwas geschieht. Verhört sie, sperrt sie ein, tut, was ihr wollt. Nur - tut - ihr - nicht - WEH!", brülle ich. Der gesamte Platz verharrt mitten in der Bewegung. Irritiert im ersten Moment, dann mit einer Miene, der nicht einmal ein Meisel etwas anhaben könnte, macht Carik einen einzelnen Schritt auf mich zu. Schon ist da nichts anderes mehr, als Dunkelheit. Ich fühle gerade noch, dass mein Kopf auf dem kalten Beton aufschlägt.

"Wir haben ein Problem", stellt Junos fest, wendet sich seinem Gegenüber, das im Schatten auf einem breiten Bürosessel thront, wieder zu, fährt fort, während sich sein Ausdruck von sachlich zu angsterfüllt wandelt: "Wir müssen ihn loswerden. Noch einmal darf so etwas nicht geschehen!"
Kühl lehnt sich der Mann nach vorne, monoton kommt es aus seinem Mund unterhalb der Sonnenbrillen hervor: "AGENT Junos, Sie haben in dieser Sache genauso wenig zu sagen wie ich selbst. Doch der Staat braucht diesen Jungen genauso, wie Sie ihn brauchen. Wenn wir ihn loswerden, finden sie schlimmstenfalls einen neuen. Und was tun wir dann?"
Resigniert sich sträubend, den Kopf abwendend gibt Junos klein bei.

"Bitte, geben sie mir eine Chance", fleht, nicht unterwürfig, Carik einen untersetzten Mann an.
"Sind Sie sich überhaupt bewusst, worum was Sie mich da gerade ersuchen?", versichert der Große Boss sich, seine Hände von seinem staatlichen Bauch nehmend, sich vorlehnend.
"Absolut. Wäre es diesen Versuch nicht wert?", fasst der V-Kommando Kommandant Hoffnung.
"Sie sagen es. Einen Versuch wäre es sicher wert." Ein Lächeln schleicht sich auf Cariks Gesicht. "Aber bedenken Sie, was könnte geschehen, wenn Sie und ihr Team scheitern sollten?" Mit diesen Worten verlässt der Große Boss das Zimmer.
Wortlos bleibt Carik alleine zurück im Raum.
Über die Schulter dringen die letzten leisen Worte des dicklichen Mannes an seine Ohren: "Sie sind der Kommandant des V-Kommandos. Teilen Sie sich Ihre Resourcen ein, wie Sie wollen. Aber vergessen darüber nicht Ihre tatsächliche Aufgabe."
Cariks Gesichtsausdruck zufolge wird er diesen einen Satz nie mehr vergessen."

"Was!?", fahre ich hoch, richte mich kerzengerade im Bett auf. Das ist nicht mein Zimmer! Ich bin nicht in meinem Bett in Junos' Wohnung!
Wo bin ich also? - Naja, ich kann von Glück reden, nicht mehr bei Junos zu sein. Zumindest, wenn ich einem 'Traum' glauben schenken kann...
Ich habe wohl irgendjemanden mit meinem Rufen aufgeweckt. Schritte aus dem Nebenzimmer poltern auf den Gang. Meine Tür wir aufgerissen. Das Licht geht an.
Das Gesicht einer Frau erscheint im Türrahmen. Freundlich, nett, offen. Etwa dreißig. Glänzend schwarze Haare. Hinter ihr taucht noch jemand auf. Carik. Beide im Nachthemd.
"Was ist los?", versucht mich die Frau zu beruhigen: "Es gibt nichts, wovor du dich fürchten musst."
"Das ist es nicht", bringe ich verwirrt heraus. Bin ich bei Carik zu Hause?
"Wieso bin ich hier? Was ist geschehen?"
Sanft setzt sie sich auf meine Bettkante, erklärt: "Gestern", sie wirft einen Blick auf die Uhr: "ja - gestern habt ihr doch dieses Mädchen gefangen genommen. Nachdem du dich geweigert hast, mitzukommen, musste mein Mann zu härteren Mitteln greifen. Keine Sorge, es ist dir nichts geschehen. Du musst bitte verstehen, dass dein Verhalten nicht nur dich sondern auch das Mädchen und meinen Mann in große Gefahr gebracht hat und es viel schlimmer hätte kommen können."
"Wo ist sie?", stehe ich bestimmt auf, will an Carik vorbei hinaus aus dem Zimmer. Er wird mich aufhalten, mich erneut betäuben, mich hier festhalten bis in alle Ewigkeiten.
Den Blick gesenkt, den Arm zur gegenüberliegenden Tür deutend, macht er einen Schritt zur Seite.
Vollkommen aus der Rolle gefallen drücke ich leise - ich will nicht noch jemanden wecken - die Klinke hinunter.
Ein Lichtkegel arbeitet sich, je weiter ich die Tür aufdrücke, vom Schreibtisch über den Boden hinüber zum Bett, fällt weich auf einen Kopf. Weiß schimmernd sticht der Verband zwischen den roten Haaren hervor.
Gleichzeitig will ich hin zu ihr, überprüfen, ob sie wohlauf ist, sowohl wie sie nicht stören, ihre Schönheit bewundern, solange sie schläft, ruhig, behütet und scheinbar schuldlos so daliegt. Jede einzelne ihrer roten Haarsträhnen, jeden einzelnen ihrer zarten Finger, jeder Teil von ihr strahlt etwas aus, von dem ich nicht sagen kann, ob es gut oder schlecht ist. Nur eines weiß ich, etwas in mir will nicht mehr von ihrer Seite weichen.
"Kirs?", flüstert Carik hinter mir, legt mir schon fast väterlich eine warme, kräftige Hand auf die Schulter: "Du solltest sie schlafen lassen."
Ich habe keine Ahnung, an wie vielen Mädchen ich bereits in meinem Leben vorbeigelaufen bin. Tihana jedoch scheint anders zu sein, etwas Besonderes, etwas Neues.
Und ich will wissen, was dieses Etwas wirklich ist.
Behutsam schließe ich die Tür, tapse zurück in mein eigenes Zimmer.
Im Kampf mit mir selbst falle ich zurück in die Kissen. Was ist das da in mir? Ich kenne es nicht. Mir ist kein Ausdruck dafür bekannt.

Geschirr klappert. Ansonsten liegt bedrückende Stille über der Wohnung.
Müde, noch mit halb geschlossenen Augen wandle ich in die Küche, nehme am reichlich gedeckten Tisch Platz.
Dann greife ich mir eine Scheibe Brot, beginne, Butter darauf zu streichen, dann die Marmelade.
"Guten Morgen", kommt es erst von Cariks Frau, dann von ihm selbst.
"Morgen", murmle ich unverständlich.
"Lisa, könntest du mir bitte mal den Kaffee reichen?", bittet Carik. Damit weiß ich nun zumindest den Namen seiner Frau.
"Ähem", räuspert sich in diesem Moment schräg hinter mir jemand. Erschrocken zucke ich zusammen.
"Tihana", bringe ich überrascht hervor. Sie muss sich quasi angeschlichen haben. Gelassen zieht sie den Stuhl links neben mir zurück, setzt sich.
"Was ist denn los?", erkundigt sich Lisa besorgt. Tihanas Gesichtsausdruck verdeutlicht ihre Stimmung nur allzu gut…
Alles, was zurückkommt, ist das Knirschen von Toastbrot zwischen ihren Zähnen und ein abgewendeter, gesenkter, verbitterter Blick in Richtung des Mülleimers in der Ecke des Raumes.
Carik ergreift das Wort: "Kris, das kommt für dich jetzt vielleicht etwas plötzlich, aber um es offiziell zu machen: Tihana wird dich von nun an in die Schule begleiten. Außerdem dürft ihr zwei euch ab jetzt als Teil der Familie Flammenwolf bezeichnen!"
Wie aufs Stichwort betritt in diesem Moment Aran die Küche.

 

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