Der Staat Kapitel 27

28. April 2062, 7:22, Wien, Wohnsitz der Flammenwolfs

 

"Morgen", grüßt Aran, nimmt links von Tihana Platz.

Man kann ihr Unwohlsein in der Luft spüren. Sie zieht die Schultern hoch, senkt den Kopf leicht ab. Unwillkürlich versuche ich ihr irgendwie Nähe zu signalisieren, realisiere, dass das auf Stühlen recht schwer geht, ohne selbige zu verrücken, und verfalle in einen ähnlichen Zustand des Unbehagens.

Aran hebt die Augenbrauen in meine Richtung, ich erwidere den Gruß. Er weiß also bereits Bescheid, was Tihana und mich betrifft.

"In einer halben Stunde müsst ihr los. Tihana, wenn du das Bad benutzen möchtest, es ist gleich den Gang hinunter, beschriftet", weist Lisa sie hin. Stumm nickend erhebt sich die Angesprochene, macht sich auf den Weg.

 

"So, viel Spaß!", wünscht Lisa, während wir drei uns unter strengster Beobachtung durch zwei Soldaten zur Bushaltestelle begeben.

Tihanas Laune verbleibt auf dem Allzeit-Tief. Meine mit ihr.

Aran scheint es prächtig zu gehen.

"Na, wer hätte sich das gedacht", beginnt er fröhlich: "Gestern war ich noch ein Einzelkind und heute Morgen habe ich eine Rebellin und den besten V-Schüler Wiens an meiner Seite. - Was sagt man dazu?"

"Eine imposante Entwicklung", kommentiere ich neutral.

Von Tihana kommt nur ein abfälliges Schnauben nach dem Motto: Als ob.

Aran und ich steigen in den Bus, während Tihana von den Soldaten bestimmt, nicht grob, zurückgehalten wird. Man verfrachtet sie in einen dieser Militärwagen.

So wird sie zur Schule gebracht. Immer in meinem Blickfeld hinter dem Bus, doch nie in Reichweite.

Auf dem Schulhof angekommen drehen sich nicht ein paar, nicht viele, nicht die meisten, sondern alle Köpfe in Tihanas Richtung, als sie von den Soldaten einfach so abgesetzt wird. An ihrem Handgelenk bemerke ich das Armband der V-Schüler, kurz kratzt sie sich am Ohr und ich meine im Kontrast zu ihren blauen Augen eine Linse aufschimmern zu sehen.

"Sie ist ab jetzt ein Teil von uns", raunt Aran mir zu. Er hat eine Haltung zu diesem Thema, das kann ich aus seiner Stimme schließen, aber welche genau kann ich nicht sagen, dafür war diese Aussage zu neutral gehalten.

Ich für meinen Teil frage mich nur, worauf das hinauslaufen soll. Irgendetwas muss der Staat damit doch bezwecken wollen. Doch was? So sehr ich meinen 'Träumen' keinen Glauben schenken will, muss ich trotzdem immer wieder an diese eine Szene denken, in der Carik und der Große Boss irgendetwas bezüglich eines 'Versuches' besprechen.

Tihanas Aufnahme in die V-Klasse: ein Versuch - wofür?

Sie steht nur da, steigt von einem Fuß auf den anderen, weiß nicht, was sie tun soll, schaut zu Boden, spannt sich an. Könnte man Ablehnung und Angst sehen, sie würden sie wie ein Schild umgeben.

Nach anfänglicher Verwunderung über dieses Mädchen, das ebenso anders ist wie wir alle, und einer Erklärung durch einige Lehrer, gehen die Schüler wieder ihrer Wege.

Sie bleibt alleine dort zurück. Genau auf dem Fleck, an dem sie ausgestiegen ist. Macht keinen Schritt vor und keinen zurück. Langsam bewege ich mich in ihre Richtung. Aran macht sich davon.

"Tihana?", frage ich vorsichtig auf dem letzten Meter, werde von den weiterhin ankommenden Bussen und Schülern übertönt.

"Tihana?", berühre ich ihre Hand. Sie zuckt zurück.

Wie hätte ich es auch anders erwarten können?

Ihr Blick springt umher, es scheint alles viel zu viel für sie zu sein.

"Kann ich dir irgendwie helfen?", biete ich zurückhaltend an, lasse meine Hände diesmal bei mir. Wir müssen in die Schule!

"Sag mir, dass das hier nur ein Alptraum ist", flüstert sie. Aber nicht so, wie man jemandem beispielsweise etwas sagt, wenn neben einem jemand schläft.

Nein, dieses Flüstern hat etwas Kraftvolles, Kämpferisches in sich. Sie hat Angst, macht jedoch keinen Rückzieher, sondern will in die Offensive gehen, weiß, sie kann - darf - nicht.

Keine Ahnung, warum sie überhaupt in den Staat wollte, keine Ahnung, was sie überhaupt will. Eines vermag ich mit Sicherheit zu sagen, sie hasst die komplette Situation - ohne Ausnahmen. Und sie wird bei der ersten sich bietenden Gelegenheit versuchen, etwas zu unternehmen. Sei es nun zu fliehen oder Unruhe zu stiften, was auch immer.

Sie wird sich nicht kampflos ergeben.

"Nein", muss ich sie wahrheitsgemäß enttäuschen.

Ihr Blick hebt sich, ihre Augen starren in die Tiefe meiner. Instinktiv ziehe ich die Schultern hoch.

"Aber es ist einer", kommt es wie in Zeitlupe über ihre Lippen.

Kaum hat sie diese Worte ausgesprochen, ertönt über meine Ohrstöpsel Junos Stimme: "Kris, sorg dafür, dass sie endlich in den Unterricht kommt. Und mach ihr klar, dass sie von nun an ein Teil des Staates ist", mit doppeltem Nachdruck hängt er an: "Das ist ein Befehl."

"Ah, Tihana", beginne ich: "Wir sollten langsam in die Klasse. Außerdem solltest du dich schleunigst dran gewöhnen, wie er hier zugeht", führe ich Junos Anweisung durch.

Entgeistert mustert Tihana mich. Das war's dann wohl zwischen ihr und mir…

Wenn ich nur irgendwie verhindern könnte, dass Junos mich über die Ohrstöpsel hört - dort sitzt ja das Mikrofon soweit ich mitbekommen habe.

Verwirrt, hilflos, nach etwas suchend, das ich machen kann, setzte ich mich in Bewegung. Trotzig, vorsichtig, ständig in Abwehrhaltung verbleibend folgt Tihana mir.

Durch die Gänge voller Menschen, die breiten Treppen hinauf und hinein in das Klassenzimmer.

Auch hier wenden sich alle Tihana zu, mustern sie kurz. Da sich die Meisten wenige Augenblicke später wieder abwenden, schätze ich, sie haben Infos über ihre Linsen bekommen.

Milet geht auf Tihana und mich zu, streckt ihr einladend die Hand hin, lächelt sie an: "Freut mich, dich in unserer Klasse willkommen heißen zu dürfen."

Kühl wahrt sie die Etikette, würdigt ihn aber keines weiteren Blickes.

Man hat die Tische ein wenig umgestellt, Tihanas Platz scheint nun direkt neben meinem zu sein. Schön, auf der einen Seite mein Freund, auf der anderen Seite das Mädchen, für das ich keine passenden Adjektive habe - ich bin zufrieden. Und so setze ich mich auch hin, deute auf den Stuhl neben mir: "Tihana, setzt dich. Die Stunde beginnt gleich."

"Aha", gibt sie kalt, desinteressiert und irgendwie abwesend zurück, tut wie geheißen.

Der Lehrer betritt die Klasse und kommt sofort zum Punkt: "Guten Morgen. Wie ihr alle mitbekommen habt, haben wir von nun an ein weiteres neues Mitglied in unserer Klasse. Wenn sie auch eigentlich ein Jahr zu jung dafür sein mag, man setzt große Hoffnungen in sie, wie in jeden von euch."

Verhalten in Krisensituationen, erkennen von Gefahren, wie man sie vermeidet und die Deeskalation, sind unsere Themen heute.

Es bleibt dabei, dass Tihana definitiv keine Intention hat, hierzubleiben, was ich verstehe und auch wieder nicht. Ist es nicht interessant? - Andererseits natürlich ist der 'Nicht-Staat' vermutlich interessanter…

"Feinberg?", nimmt der Lehrer mich an die Reihe: "Welche äußeren Merkmale sind es, mit deren Hilfe man die Haltung eines Menschen zu einem selbst ganz grob abschätzen kann?"

"Blick, Haltung, Körperspannung, Hände, Gangart, Stimmlage", antworte ich.

"Stimmt genau. Merkt euch immer…", fährt der Lehrer fort.

Neben mir beginnt Tihana irgendetwas zu murmeln, nein, nicht einmal das, man hört es fast nicht, scheinbar bewegen sich nur ihre Lippen.

"Feinberg Kris. Grebnief Sirk. Natürlich. Feinberg Kris…" Mit einem Mal fixieren mich ihre Augen, so als wäre ich ein Diamant, von dem sie jede einzelne Facette, jede noch so dezente Lichtreflexion in jeder nur erdenklichen Farbnuance erkennen will.

Natürlich fällt dem Lehrer diese Unachtsamkeit von ihrer Seite sofort auf. Ruhig spricht er sie monoton an: "Tihana? Ich weiß, ihr seid in der Pubertät und keine Ahnung was sonst alles, aber so etwas hat bis nach der Schule Zeit. Du bist neu hier, deshalb übersehe ich das jetzt. Aber nicht noch einmal, verstanden?"

Sie nickt nur.

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