Der Staat Kapitel 28

28. April 2062, 13:26, Wien, Schulzentrum

 

Man merkt, wie sich in ihr alle Gefühle anstauen. Am liebsten würde sie vermutlich losbrüllen, sich all den angesammelten Frust aus dem Kopf schreien. Aber sie kann nicht. Sie ist ein Leben im 'Nicht-Staat' gewohnt. Frei, ohne Zwang und große Regeln - zumindest laut Naan. Jetzt ist sie hier, wird in unser System von Abläufen gepresst.

Als wir zu Hause ankommen, kann sie nicht mehr ruhig stehen. Was Lisa auch bemerkt, als sie uns dreien die Tür öffnet. Besorgt bietet sie Hilfe an: "Möchtest du reden?"

Für einen Moment überlegt Tihana, will schon fast nicken, entscheidet sich jedoch dann um, schlüpft an Lisa vorbei in ihr Zimmer. Keine zwei Augenblicke später hört man das Geräusch eines Laufbandes auf sehr, sehr hoher Stufe.

Carik ist noch nicht zu Hause.

Auf ein Mittagessen habe ich keinen Appetit, ich ziehe mich wie Tihana zurück in mein Zimmer.

Jetzt, da ich ungestört mit ihr sprechen könnte, funkt mir der Gedanke an Ohrstöpsel, Linse und Armband wieder in den Kopf. Sie bekommen mit, wenn ich mit jemandem über etwas spreche, das tabu ist. Was aber, wenn ich 'schlafe'. Ich könnte die Linse abdunkeln, den Ohrstöpsel irgendwo in mein Zimmer legen, die Tür desselbigen schließen und das Armband, mit dem sie mich orten können, lege ich einfach irgendwohin. Ich darf nur nicht vergessen, dass ein 'Mittagsschlaf' nicht mehr als eine Stunde dauert.

Nun wäre nur noch wichtig, dass Tihana dasselbe tut, ohne, dass ich ihr es lang und breit erklären muss, das würden die 'Überwacher' nämlich mitbekommen... Lisa ist zum Glück nicht unter 'Beobachtung'.

Ich lege also mein Zeug noch nicht ab, sondern gehe hinüber zu Tihanas Zimmertür, klopfe an: "Darf ich?"

Ein bejahendes Murren gewährt mir Einlass.

Sie läuft wie vermutet auf dem Band, würdigt mich keines Blickes.

"Tihana, ich wollte nur mal nach dir sehen, du hast so müde gewirkt, irgendwie. Ich weiß nicht, ob du dich nicht besser einmal hinlegen solltest. Gestern und heute dürften recht anstrengend für dich gewesen sein?"

Verwirrt über meinen Vorschlag dreht sie sich um.

"Was?, steigt sie vom Laufband runter, blickt mich gefühlslos an: "Du sorgst dich etwa um mich?"

"Ahm…", gut, so kann man es auch ausdrücken: "Aaaaaaaaaaaah… - ja."

"Oh", macht sie nur. Sie sieht in meinen Augen - hoffentlich nur sie - dass ich irgendetwas plane, lenkt ein: "Stimmt, da hast du eigentlich Recht. Ein wenig Schlaf kann nicht schaden."

"Sehr gut", drücke ich sie sanft aufs Bett, streife ihr außerhalb meines und ihres Blickfeldes das Armband von der Hand, lasse es unter ihrer Decke verschwinden. Kurz blitzt Erkenntnis in ihren Augen, die sie sofort darauf schließt.

Gespielt kräftig gähne ich: "Ich werde mich dann wohl auch mal hinlegen für ein Stündchen oder so…"

Geschafft! Ich drücke meine Zimmertür hinter mir zu. Jetzt Licht ausschalten, Schlafgewand anziehen, hinlegen, einmal mit der Hand über die Augen fahren, Augen schließen, dabei die Linse herauswischen und in der geschlossenen Hand sofort unter dem Kopfkissen deponieren, jetzt Armband abstreifen und Ohrstöpsel herausnehmen, ebenfalls unter das Kissen. Aufstehen. Fertig.

Ein befreiendes Gefühl. Wieso bin ich da nicht schon früher draufgekommen?

Okay, so weit so gut. Nun zu Tihana. Hoffentlich hat sie es ähnlich gemacht, wie ich… Ansonsten kommen die 'Überwacher' drauf.

Apropos…Aran könnte jetzt zu einem Problem werden, schließlich hat er noch all diese Technik an sich. Heißt, ihn vermeiden, wenn ich hinüberhusche zu Tihana, was bedeutet, ich muss mich versichern, dass er nicht blöderweise genau in diesem Moment in meine Richtung schaut.

Vorsichtig lausche ich an meiner geschlossenen Zimmertür. Lisa und Aran sind noch in der Küche, es klingt, als würden sie gerade den Tisch abräumen.

"Hey, wo sind eigentlich Kris und Tihana hin?", wundert sich mein neuer 'Bruder'.

Lisas Reaktion hört sich an wie ein Schulterzucken, schlägt dann vor: "Sie haben beide relativ ausgelaugt gewirkt beim Essen. Vielleicht wollen sie gerade einfach ihre Ruhe haben…"

"Hm", kommentiert Aran: "Stimmt, könnte sein…"

Lisa lächelt: "Ich bin mir sicher, ihr drei werdet noch genügend Zeit haben, die ihr miteinander verbringen könnt. Aber lass deine neuen Geschwister sich erstmal ausruhen."

"Okaaay…", murmelt Aran, schlurft den Flur entlang. Ich höre seine Zimmertür zuschlagen. Gut, damit hätte sich schon einmal das Problem erledigt. Bleibt noch Lisa. Selbst wenn sie nicht überwacht wird, könnte es trotzdem fatal enden, wenn sie mich in ein Gespräch verwickeln sollte, welches anschließend Aran aufscheuchen würde…

Also weiterhin äußerste Vorsicht walten lassen.

Geräusche dringen keine mehr an meine Ohren - wo ist Lisa? Halt. Schritte, sie kommen den Flur herunter. Lisa kommt in meine Richtung, keine Ahnung, was sie vorhat.

Reflexartig mache ich zwei kurze Sprünge zurück zu meinem Bett, decke mich so gut wie möglich zu.

* Lisa stoppt direkt vor meiner Zimmertür. Gerade im letzten Moment noch schließe ich die Augen, drehe mich von der Tür weg, erstarre in Schlafpose.

Sie drückt die Klinke hinunter, setzt einen Fuß in den Raum.

"Kris…?", beginnt sie, bemerkt mich im Bett liegen, verstummt mütterlich. Ich könnte schwören, ein Lächeln zuckt genau jetzt über ihre Lippen.

Erst als das Schloss wieder einschnappt wage ich es, erneut zu atmen.

Das - war - knapp.

So, langsam durchatmen, beruhigen. Herzschlag für einen Moment zur Ruhe kommen lassen.

Lisa kontrolliert soeben Tihana, mit demselben Ergebnis wie bei mir. Ein leises, gemurmeltes: "Gute Nacht", dringt an meine Ohren, dann geht Lisa zurück in die Küche.

Geschirr klappert, Stühle werden verrückt. Stille legt sich über das Haus.

Wo ist sie?

"…kommen wir zu der Ankündigung des neuen Sicherheitspaketes. Ich übergebe das Wort an den Sprecher der staatlichen Sicherheitsabteilung. Barid, was können Sie uns über den derzeitigen Stand der Dinge erzählen?"

Der Fernseher.

"Nun, wir leben in der sichersten Zeit seit Gründung des Staates und um diesen Zustand beibehalten zu können, berät die Regierung auf Anweisung des Flammenwolfs hin, über diese neuen Sicherheitsmaßnahmen. Sicher sagen kann ich nur, dass unsere Grenzkontrollen effizienter und sowohl das V-Kommando als auch das Militär mehr Geldmittel bekommen werden. Außerdem…"

Das ist die Stimme. Seine Stimme. Diese kalte, gefühlslose, präzise Stimme. Die Stimme von Barid, dem Sonnenbrillenmann.

Ein Schauer läuft über meinen Rücken, direkt gefolgt von noch zwei. Alleine schon der Tonfall der Worte schüchtert mich ein. Und es wird mit jedem Treffen mit ihm schlimmer…

Wenn das, was er da gerade erzählt hat, der Wahrheit entspricht - was ich nicht anzweifle - ist dies jetzt womöglich eine der letzten Chancen, mit Tihana ungestört zu sprechen.

Also los Kris! Was liege ich hier noch länger herum?

Lisa sitzt vor dem Fernseher, Aran ist in seinem Zimmer.

Langsam drücke ich die Klinke hinunter, drücke die Tür langsam auf, vergewissere mich mit einem Blick nach links und rechts, das 'Bruder' und 'Mutter' noch immer dort sind, wo sie vor drei Sekunden waren.

Dann, die Tür hinter mir zu, drei schnelle, lautlose Schritte und die Tür vor mir auf.

Unterdrückt aufatmend lehne mich an die Wand neben Tihanas Bett.

Schläfriges Murren dringt unter ihrer Bettdecke hervor. Sie denkt wohl, ich wäre Aran oder Lisa.

"Hey, aufwachen du Schlafmütze", flüstere ich.

"Kris? Das bist du, nicht wahr?", kommt es sofort, hundertprozentig sicher zurück.

"Jep. Erraten."

Eine raschelnde Bettdecke, zwei nackte Füße auf dem Boden, eine auffordernde Handbewegung von ihr, später sitzen wir uns im Schneidersitz gegenüber auf dem Teppich.

"Du wolltest reden?", vermutet Tihana richtig, nimmt mir meinen Einleitungssatz weg.

"Stimmt."

 

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