Der Staat Kapitel 30

28. April 2062, 14:19, Wien, Wohnsitz der Flammenwolfs

 

"Und, was willst du hören?", möchte sie erfahren. Ist es eine Spur Begeisterung gemischt mit einer Portion Vorsicht und etwas Neugierde oder doch einfach nur Langeweile? Gut, das liegt recht weit auseinander, aber wenn jemand so leise spricht wie wir gerade und es noch dazu dunkel ist, wird die Sache schon schwieriger…

"Naan hat mir vom Leben außerhalb des Staates erzählt. Ich möchte zuerst eine Bestätigung von dir, dass er die Wahrheit gesagt hat. Ist es wahr, dass…"

Freundlich unterbricht sie mich sanft: "Naan würde nicht bei so etwas lügen. Egal, was er dir berichtet hat, es stimmt. Ausnahmslos." War das gerade ein Lächeln, das da in ihrer angenehmen, warmen Stimme mitgeschwungen ist?

Einmal ziehe ich tief die neutrale Zimmerluft ein. Na dann hätte ich das geklärt. Ich spüre ihren Blick auf mir, selbst wenn ich es nicht sehen kann, sie zeigt Interesse. Für was, weiß ich nicht. Für meine Fragen, oder für mich? - Lassen wir das.

"Zweite Frage", fahre ich leise fort: "Wer bist du und wieso bist du hier? - Ich kenne nur deinen Namen."

So langsam haben sich meine Augen der Dunkelheit angepasst.

Tihana setzt an: "Dann fange ich am besten ganz von vorne an. Meine Eltern haben einst im Staat gelebt. Einige Jahre vor meiner Geburt sind sie dann eingeteilt worden, die Überbringung der Ernte aus dem 'Nicht-Staat'-Bereich nach Wien zu überwachen und kontrollieren. Aus der anfänglichen Operationsbasis ist eine Art Vorort entstanden und Wien hat begonnen, seine Fühler immer weiter nach dem 'Nicht-Staat' auszustrecken. Die Menschen dort draußen leben glücklich und frei, sie wollen nichts mit dem hier zu tun haben." Sie muss abbrechen, eine einzelne Träne kullert über ihre Wange, glänzt im Licht, das durch den Türspalt hereinfällt. Schwer schluckt sie einmal, zweimal, muss für einen Moment die Augen zusammenpressen.

"Alles okay?" - Nein natürlich nicht, ich *! Wieso würde sie wohl sonst weinen.

"Kann ich dir helfen?", biete ich selbst hilflos an.

Hauchdünn, zart wie Reispapier brechen ihre Worte durch die Dunkelheit zwischen uns, treffen mich gleichermaßen, wie sich mich behutsam umschlingen: "Ja, kannst du. - Naan braucht unsere Hilfe."

Stumm sitze ich da, versuche die Sache zu verarbeiten, doch lange bevor es mir gelingt, beendet sie ihre Ausführungen: "Alles ist schön und gut gewesen, dort, wo ich gelebt habe. Naan ist wie ein zweiter Vater für mich geworden, ich habe seine Freunde kennengelernt. Emi, die 'Anführerin' des 'Nicht-Staates', Katsu, Emis Sohn, Narco und Mathan, die zwei unzertrennlichen Brüder ohne Blutsverwandschaft, Nachfahren von zwei der Großen Acht und Randa, das Mädchen mit dem Lächeln aus Stahl, die jedes Herz einschmelzen kann, wenn sie möchte. Dann ist die Nachricht von Naan gekommen, der Staat habe alte Technologien von vor 2015 in Betrieb genommen und sei dabei, diese nachzubauen und zu verbessern. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat Katsu die Sache selbst überprüfen wollen." Eine Träne nach der anderen fließt, tropft hinab auf den Boden, verschwindet genauso, wie meine Möglichkeiten, sie zu unterstützen.

"Naan, Narco, Mathan und ein weiterer haben ihn begleitet." Jetzt bricht sie erneut vollkommen ab. Unterdrückte Schluchzer, feuchtes Schniefen, gesenkte, wässrige Blicke.

Ein Hilfeschrei so laut, er könnte Häuser erschüttern lassen, so unhörbar, wie das Fallen einer Feder auf dem Schulhof, so kraftvoll, wie zehn Soldaten, so verletzlich, wie die Fingerspitze eines kleinen Kindes, so mächtig, wie die Ratschläge einer Mutter, so schwach, wie ein einzelner Tropfen Wasser im Krater eines Vulkans.

Ich möchte ihr beistehen, ihren Arm auf meine Schulter legen, sie auf ihrem Weg stützen.

Und alles, wozu ich im Stande bin ist: "…"

Naan, Katsu, Narco, Mathan…

Ein leiser Schniefer: "Sie sind gefangen genommen worden. - Deshalb bin ich hier. - Ich werde sie sicher nach Hause bringen."

"Ich werde dir helfen."

Ihre Reaktion vermag ich nicht in Worte zu fassen, so sehr ich es auch versuche, diesen Ausdruck irgendwie einzuordnen, es gelingt mir nicht. Keine Kategorie ist groß genug dafür. Sie ist alles in einem, scheint so simpel zu sein - Ein einfaches Lächeln nur, glänzende, mich fixierende Augen, ein gestreckter Rücken - ist aber komplizierter als…keine Ahnung, ich habe keinen Vergleich, der auch nur in irgendeiner Weise daran herankommt.

Sie öffnet den Mund, sagt ein einzelnes Wort. Leise, schüchtern, dankbar - wieso gibt es keine Worte für das? Nein, es braucht eine ganz neue Sprache, nur um ausdrücken zu könne, was sich hier abspielt.

"Danke", verarbeitet mein Gehirn ihre Antwort.

Ein Lächeln von ihr, ein Lächeln von mir, ein undefinierbarer Blick in meine Augen, ein Schließen meiner Augenlieder. Ein Moment der Ruhe nur.

Es ist wahr, Naan hat mich nicht belogen.

Er ist gefangen genommen worden, wir werden ihn befreien. Nicht er ist es, der etwas Unrechtes getan hat. Nein, nicht er, nicht Tihana, nicht ich.

Aber…wer dann?

'Der Staat'?

Aber das schließt uns alle ein…

Immerhin ist es ja so, dass wir alle zusammenarbeiten im Staat, gemeinsam etwas zu erreichen.

Doch was eigentlich? - Was ist unser Ziel? Wozu sind wir, was wir sind?

 

Geschirr klappert, stumm sitzt Familie Flammenwolf am Tisch, löffelt ihre Suppe. Dampfend stehen die Kochtöpfe mit den Nudeln und der Soße am Herd, nur darauf wartend, gegessen zu werden.

Das Gespräch mit Tihana lässt mich noch immer nicht los. Wir wollen jemanden retten, von dem wir nicht wissen, wo er ist, beziehungsweise wie wir dort hineinkommen, wo er ist - und hinterher wieder hinaus…

Zum gefühlt dreiundsechzigsten Mal setzte ich nun schon zu dieser Frage an - einfach nicht nachdenken, Kris, tu es einfach!

"Carik, was ist es denn, das uns so sehr bedroht? Im Fernseher da…" Sein Gesichtsausdruck lässt mich schlagartig verstummen. Es ist nicht Ablehnung oder Entnervtheit, sondern viel mehr eine Last auf seinen Schultern, durch meine Neugier weiter verstärkt.

Seine Frau fasst sich ein Herz, erklärt:

"Böse Menschen. Sie leben weit weg. Und…"

Auch sie schließt den Mund, als Carik seinen Blick auf sie legt. Dieser schluckt hinunter, wischt sie langsam mit einer Serviette ab.

"Was willst du hören?", möchte er ruhig und sachlich erfahren.

"Ähm…", mache ich in die Defensive geschlagen.

"Noch mal: Was willst du hören?", wiederholt er besonnen, mit einem Unterton, der andeutet, dass ich nicht hören will, was es zu sagen gäbe.

Jetzt oder nie.

"Was ist dort draußen? Wer ist dort draußen? Warum geschieht, was geschieht?"

Cariks Gesichtsausdruck verändert sich kein bisschen, bleibt starr, kühl, abschätzend.

"Na gut…", murmelt er, richtet sich in seinem Sessel auf: "Früher oder später erfahrt ihr es sowieso… - Der Staat ist nur ein kleiner Teil der Erde. Sehr weit entfernt liegen noch unzählige ähnliche 'Staaten', dazwischen immer wieder einige Splittergruppen, die zu keinem der 'Staaten' gehören. Südlich von Wien, etwa drei Stunden Busfahrt entfernt, liegt das Gebiet der 'Pannonier', wie wir sie nennen - prinzipiell eine Gruppe von Farmern. Es hat seit Beginn des Bestehens des Staates eine stabile Kooperation mit ihnen gegeben. Technische Unterstützung von uns mit Lebensmitteln von ihnen. - Jedoch, vor einigen Monaten sind sie plötzlich misstrauisch geworden, weil wir an einer neuen Technologie forschen. Sie meinen, wir wollen sie bedrohen. Das hat sie nun gegen uns aufgebracht - trotz unzähliger Angebote unsererseits zur gemeinsamen Nutzung der neuen Technologie…", er endet mit den Worten: "Tihana wird jedes einzelne Wort so bestätigen können."

Sie blickt nur stumm in die tiefen Abgründe ihres Suppentellers.

 

Kommentare und Anregungen in der Kommentarsektion sind immer gerne gesehen!

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Kommentare: 3
  • #1

    alexander hollaus (Samstag, 04 Juni 2016 20:47)

    cool - mir gefällt was du schreibst ☺️

  • #2

    Markus Grain (Samstag, 04 Juni 2016 21:45)

    danke!

  • #3

    Markus Grain (Samstag, 04 Juni 2016 21:46)

    :)