28. April 2062, 18:47, Wien, Wohnsitz der Flammenwolfs
Plötzlich, ungefähr so überraschend, wie Naan damals direkt vor mir abgebremst hat, verkrampfen sich Tihanas Handmuskeln um den Griff des Löffels, ihr Blick versteinert zu einer ausdruckslosen, kalten Maske der Gefühlslosigkeit.
Dann fällt der Metallstiel aus ihren Fingern. Laut klirrend scheppert er auf den Tellerrand. Ein, zwei Tropfen Suppe spritzen hoch. Irgendwie spüre ich Wut in ihrem Auftreten, gleichzeitig aber auch Hilfslosigkeit und Ungläubigkeit.
Sie stürmt davon. Ich höre eine Tür zuschlagen.
Verdattert sitzen die drei ursprünglichen Mitglieder der Familie Flammenwolf am Tisch, schauen sich verwundert an, Lisas Blick hängt sich an der Spitze des Löffels fest. Tihana habe ich mein Versprechen gegeben, ihr zu helfen: Unverzüglich erhebe ich mich, eile ihr hinterher, lasse Carik, Lisa und Aran noch perplexer als ohnehin schon zurück.
Zwei Momente warte ich noch auf dem Gang vor Tihanas Zimmertür. Wie soll ich nur anfangen? Oder… Nein, das ist doch vollkommener Blödsinn. Ich meine, wieso sollte es bloß Situationen geben, die nicht für Worte geschaffen sind? Also, das ist doch…
Sie braucht Unterstützung, soweit bin ich mir im Klaren. Durch die Tür höre ich sie auf das Bett fallen. Was war das gerade für ein Laut? Es klang, als versuchte sie auszuatmen, hat dann aber mit einem Schlag abgestoppt. Da, noch einmal. Hä?
Zaghaft klopfe ich zweimal an, drücke dann langsam die Klinke hinunter.
Sie hat die Jalousien heruntergezogen und das Licht ausgeschalten.
Ein Geräusch, mir unbekannt, entweicht ihr. Es ist leise und genau deshalb spricht es etwas ganz Bestimmtes in mir an. Die Szene, wie sich Mutter und Vater jeden Abend und Morgen umarmen, schießt mir ins Bewusstsein.
Ich kann doch nicht… Sie ist immerhin… Nein, ist sie eigentlich nicht. Schon, aber… Das zu tun, wie würde sie wohl reagieren?
Sie schenkt mir keinerlei Beachtung, nur kurz linst sie in meine Richtung, zumindest kommt es mir so vor. Dann ist da schon wieder dieser Laut. Jedes Mal spannt sich ihr gesamter Körper an, nur um hinterher erneut vollkommen zu erschlaffen.
Mir ist bewusst, dass sie sich im Moment sehr schlecht fühlt, weshalb, ist und bleibt mir ein Rätsel… Auch kenne ich kein Wort, um dieses Gefühl zu benennen, welches allmählich auf mich überzuschwappen scheint.
Meine Lippen trennen sich, meine Zunge hebt sich, meine Lunge füllt sich. Doch mein Unterbewusstsein lässt keinen Laut heraus. Alles, was ich tue, ist wieder auszuatmen.
Jetzt endlich bemerke ich, dass ich ihm offenen Türrahmen stehe, mache einen Schritt nach vorne, drücke das einfallende Licht mit der Tür zurück. Alles, was bleibt, ist ein schmaler Streif Licht, durch einen Schlitz in der Jalousie.
Instinktiv, irgendwie getrieben von diesem einen Laut, den Tihana immer und immer wieder von sich gibt, bewege ich mich, je einen Schritt bedächtig vor den anderen setzend, auf sie zu.
Meine Hand streckt sich aus, meine Knie knicken ein. Ich lasse mich neben dem Kopfende ihres Bettes nieder. Vorsichtig, wie in Zeitlupe legen sich meine Finger in ihre langen weichen, roten, vollen Haare.
Sie erstarrt.
Ich ziehe meine Hand zurück.
Sie hebt den Kopf.
Energisch redet Junos am Telefon auf jemanden ein: "Sie sehen doch gerade dasselbe wie ich, oder nicht? - Ja, da haben Sie es. Die ganze Zeit über habe ich nichts anderes getan, als Sie vor diesem Jungen zu warnen. Sie haben gesehen, wohin uns das gebracht hat! - Nein, ich werde mich nicht beruhigen. - Es ist mir egal, was passieren hätte können. Es hat nicht funktioniert. Und wir müssen… - Wie bitte? Sie gewähren lassen? Sind sie vollkommen von Sinn…", er wird unterbrochen, plötzlich ändert sich sein Tonfall. Einsichtig, doch verdammt skeptisch schließt er: "Nein, das ist… - Okay, Sie sind der Boss." Junos legt auf, murmelt zweiflerisch in sich hinein: "Ich weiß ja nicht so genau, ob das hinhauen wird…"
Unsere Blicke treffen sich.
Erschrockene, glitzernde, blaue, weit aufgerissene, unverständige - wunderschöne - Augen starren mich an.
Jetzt kommt ein Laut über meine Zunge: "Hab…i…" Ihr Ausdruck lässt mich verstummen, im Guten. Sie wirkt wie eine Vase aus dem hauchdünnsten Glas, das ich je gesehen habe, filigran gearbeitet, äußerst zerbrechlich, doch so…
Ich wage nicht, auch nur einen Muskel zu rühren, so sehr habe ich Angst, sie anzustoßen und womöglich für immer zu zerstören.
"Kris?", schnieft sie. - Hat sie Schnupfen?!
Ihre Stimme zittert wie die Saite einer Geige, jeden Moment bereit, zu reißen und diese unbeschreibliche Musik abrupt enden zu lassen:
"Kris…ich - wollte nicht…", bricht gleich der gesamte Klangkörper der Geige auseinander.
Nein! Es ist doch nur…keine Ahnung.
Ihre Augen weichen nicht von mir, versuchen mir etwas klar zu machen, aber ich vermag es einfach nicht herauszufinden, was. Doch offenbar ist es etwas, dass die Überwacher nicht mithören dürfen. Selbst auf meine Frage hin: "Ich sehe, etwas stimmt nicht. Ich will dir helfen. Wenn du…mir sagen könntest, was los ist…dann…?", bleibt sie stumm, fixiert mich einfach nur weiter mit diesem unentzifferbaren Blick.
Zwei Stunden hin, seit ich Tihana wieder alleine gelassen habe. Carik meint, ich solle ihr Zeit geben, sich einzugewöhnen.
Ein neuer Tag, ein neuer Erfolg? So zumindest ein Spruch hier im Staat…
Tihanas Gesichtszügen nach kann sie heute nur noch Erfolge verbuchen.
Und ich habe noch immer kein Wort dafür. Wie soll ich das benennen, was Tihana fühlt? - Es ist ein Gefühl, soweit bin ich mir im Klaren. - Es gibt sicher ein Wort dafür, aber ich kenne es nicht. Wen könnte ich fragen? Niemanden, vermutlich. Der Ausdruck 'Gefühl' ist für die Einwohner des Staates ein Fremdbegriff.
Vielleicht finde ich etwas in der Schulbibliothek? Naja, wieso eigentlich nicht? - Weiß die Bibliothekarin, was 'Gefühle' sind?
In der Mittagspause begebe ich mich dorthin.
"Guten Tag", grüße ich, stelle mich vor ihren Tisch.
"Ja bitte?"
"Ich benötige Informationen über menschliches Verhalten", rattere ich die vorbereitete Phrase herunter. Bedauern zeigt sich in ihren Augen: "Alles, was es hier gibt, sind zwei Seiten zu Gruppendynamik und ein kurzes Manuskript zu Kommunikation und Körpersprache. Wenn dir das weiterhilft?"
"Ja, bitte, alles, was sie dahaben", bestätige ich.
Auch wenn es nicht wirklich das ist, was ich erwartet habe…wenigstens etwas.
Ich drücke die Klinke meiner Zimmertür hinunter, mein Blick fällt auf das Armband. Ein kleiner Gedankenfunke schnellt durch meinen Kopf, prallt unzählige Male irgendwo ab, nimmt immer mehr Fahrt auf und entlädt sich dann plötzlich mit einem Schlag.
Junos. Er hat mitgehört, was ich von der Bibliothekarin wollte, er hat mitbekommen, dass ich Tihanas Gefühl erlebt habe. Ich erstarre mitten in der Bewegung.
"Hä?", stößt Aran, der in die Küche will, in mich: "Wieso bleibst du denn auf einmal stehen?"
"Sorry", murmle ich, vollkommen von der Rolle und betrete mein Zimmer.
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