Der Staat Kapitel 32

29. April 2062, 15:10, Wien, Wohnsitz der Flammenwolfs

 

So sitze ich da auf der Kante meines Bettes, den Kopf in die Hände gestützt. Immer und immer wieder mich selbst rügend, wie ich bloß so dumm sein konnte.

Junos kann nicht anders, als mitbekommen zu haben, dass ich versuche, etwas über Gefühle herauszufinden!

Sie werden mich nur noch stärker überwachen. In ihren Augen darf ich nicht mit der Welt außerhalb des Staates in Berührung kommen. Sie gehen ja sogar so weit, alles dort draußen kollektiv sinnbildhaft als 'das Böse' zu brandmarken.

Ich muss es irgendwie schaffen, meine Freiheit zu erlangen.

Ich…muss… Nein, das kann ich nicht.

Ich - muss… Nein, das geht doch nicht.

Ich muss… Nein, was, wenn sie mich verfolgen?

Ich muss hier weg.

 

Was brauche ich?

Nahrung, Wasser, Kleidung.

Hm, lässt sich machen…

Aber: ich kann nicht ohne Tihana und Naan fort. Ihr habe ich versprochen, zu helfen, und der Gedanke, ohne sie irgendwohin zu gehen, fühlt sich irgendwie…unerstrebenswert?…an.

Okay, also, was ist zu tun?

Erstens: Naan befreien.

Zweitens: Abhauen.

Gut, wie erledige ich erstens?

Wir müssen wissen, wo Naan gefangen gehalten wird. Dann brauchen wir einen Weg, ihn da herauszuholen und anschließend am besten sofort ein Fluchtvehikel, mit dem wir durch die Grenzkontrolle kommen.

So viel zu tun, Eindrücke strömen zwar auf mich ein, aber keinerlei hilfreiche Ideen. Also, wie herausfinden, wo das Gefängnis ist?

Carik?

Hm…schon, aber… Irgendwie… Ich weiß nicht, kann ich ihm vertrauen? Es kommt mir irgendwie so vor, als würde er mitmachen, wenn irgendjemand anfinge… Nur wer ist dieser irgendjemand?

Ich?

 

Tief atme ich durch. Ich habe nur diese eine Chance, alles hängt jetzt an dieser einen, einzigen Bitte, die ich an Carik richten werde.

Lisa klopft an meine Tür: "Kris, kommst du? Es gibt Mittagessen."

Sie reißt mich aus meinen Gedanken. Zerstreut gebe ich zurück: "Jaja…komme…" Während ich aufstehe schüttle ich kurz und kräftig meinen Kopf - für das nun Folgende brauche ich einen klaren Geist - doch so recht helfen will es nicht…

Alle sitzen sie da, rund um den Tisch, das dampfende Essen zwischen sich. Lisa schöpft soeben aus. Fisch mit Bohnen und Püree. Mit den Gedanken irgendwo ziehe ich einen Stuhl zurück, lasse mich darauffallen.

"Hm?", hebt Aran den Kopf, mustert mich für den Bruchteil einer Sekunde, stellt fest: "Irgendetwas stimmt nicht mit dir."

"Hm…", murmle ich, beginne im Püree herumzustochern.

 

"Schauen Sie sich das an!", springt Junos auf, tobt durch den Raum. Die anderen im Zimmer zucken zusammen, niemand von ihnen kennt dieses Verhalten.

"Sehen Sie das? - Der Junge schafft es nicht nur, sich selbst vom rechten Weg abzubringen, nein, er zieht auch noch sein GESAMTES Umfeld mit hinein. Allen voran diese Familie!", keuchend bleibt er mitten im Raum stehen. Alle Augen sind erschrocken auf ihn gerichtet. Junos blickt angestrengt ins Leere, verweilt für einige Moment in einer verkrampften, aufrechten Haltung, bis ihn offensichtlich irgendeine Erkenntnis trifft.

"Wir müssen etwas unternehmen", flüstert er, sein Gesicht zu einer Maske der Angst verzerrt. Hinter ihm öffnet sich eine Tür. Der Mann mit der Sonnenbrille tritt mit gewohnt kühlem Blick ein. Betroffene, bedrückte, peinliche Stille senkt sich über den Raum.

 

"Kris?", schüttelt Tihana mich harsch an der Schulter: "Kris?"

"Ha?", kneife ich die Augen zu, reiße sie wieder auf und mache meinen Blick von der weiß gestrichenen Wand los.

"Was ist?"

"Keine Ahnung….", murmle ich.

"Du bist einfach nur dagesessen und hast an die Wand gestarrt!", fährt Aran dazwischen. Carik steht bereits, nimmt Lisa zur Seite, flüstert irgendetwas in ihr Ohr. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verheißt nichts Gutes.

"Nein, ich war nur…", bringe ich schwachen Wiederstand auf: "Ich bin einfach nur…keine Ahnung…müde…"

"Dann leg dich hin", bestimmt Aran.

Stumm senke ich meinen Kopf, schlucke diesen einen Bissen Püree, lege dann meinen Löffel zur Seite und lehne mich leicht nach vorne, sodass ich mich erheben kann. Mitten in der Bewegung höre ich Cariks schwere Schritte durch den Hausflur marschieren, eine Tür schlägt zu, er kommt mit einer großen Sporttasche zurück.

"Kris! Mitkommen!", kommandiert der Kommandant des V-Kommandos.

Ich bin im Moment so von der Rolle, dass ich mich nicht einmal mehr frage wieso. Es gibt nur eines, worum ich bitten will, doch irgendwie beschleicht mich so ein Gefühl von Nichtigkeit, als würde mein Anliegen einfach kein Gehör finden, sollte ich es vorbringen…

Carik führt mich aus der Wohnung hinaus, an den Wachen vor der Tür vorbei, welchen er mit einer knappen Handbewegung zu verstehen gibt, dass alles in Ordnung sei. Dann gehen wir zu seinem Fahrzeug, diesem großen, massiven, olivgrünen Auto mit den riesigen, breiten Rädern.

"Steig ein", öffnet er mir die Beifahrertür.

Mehr, als meinen Mund aufzumachen, bringe ich nicht zustande.

"Du musst deinen Kopf freibekommen. Da weiß ich genau das Richtige. Jetzt steig ein", wird sein Ton freundlicher. Also tue ich, was er verlangt. Carik wirft nur schnell die Tasche auf die Rückbank, ergreift dann das Lenkrad.

Kaum dass er den Wagen gestartet und ausgeparkt hat, funkt er irgendjemanden an: "Verstehen Sie mich? - Gut. Bringen Sie Milet zum Trainingszentrum. - Wieso? Weil ich das sage. - Nein, daran gibt es nichts zu rütteln. - Kein 'aber', tun Sie's!" Schnell ist das Gespräch vorbei und er starrt nur noch stur geradeaus auf die leere Straße vor uns, brummt irgendetwas Unverständliches. Ich meine, irgendetwas mit 'Vorschriften' zu verstehen, bin mir aber dessen nicht wirklich sicher.

 

Wir kommen an, Carik bremst das Auto vor einem sehr hohen, sehr breiten, viereckigen Gebäude ab. Am rechten Rand gibt es einen kleinen Eingang mit einer einzelnen Wache davor. Dort drüben stehen zwei mir wohl bekannte Personen: Milet und Junos. Der erste ist wohl genauso verwirrt über die derzeitige Situation wie ich. Der zweite scheint mir eher unruhig zu sein - sehr, sehr, sehr unruhig - ein Verhalten, dass ich so noch nie gesehen habe im Staat.

"Endlich sind Sie da!", begrüßt uns Junos schon von weitem, als Carik noch immer damit beschäftigt ist, die Sporttasche von der Rückbank zu holen. Er kommt mit dem verwirrten Milet im Schlepptau auf uns zu.

"Können Sie mir jetzt endlich mal sagen, was die beiden Jungen hier, beim Trainingszentrum des V-Kommandos sollen?", verlangt Junos ungeduldig, so gar nicht er selbst seiend, zu wissen.

Carik schmeißt locker die Wagentür zu, schließt ab, kommt hinter dem Fahrzeug hervor, drückt mir die Sporttasche in die Hand und meint dann kurz und bündig: "Trainieren."

Darauf will Junos natürlich sofort etwas erwidern, aber außer einem offen stehenden Mundwinkel bringt er nichts zustande: "Da…das…a-hem?"

"Sie haben richtig gehört", kommentiert Carik mit einem letzten Seitenblick, geht dann voran: "Kommt mit. Wir gehen."

So lassen wir Junos alleine, verdattert und langsam einem Zustand von ahm…'Unfähigkeit zur Verarbeitung des gerade Geschehenen'? nahe, zurück.

Ich weiß wirklich nicht, ob das so eine gute Idee war, den Ausbildungsleiter, Chefüberwacher und Berater des Militärs so zu ignorieren…

Und außerdem habe ich auch so überhaupt keinen Plan, wie ich Carik nun dazu bringen soll, mit mir aus dem Staat hinauszufahren.

Die Welt dort draußen will ich erkunden! - Nicht diese Trainingshalle…

Wenn ich doch nur wüsste, was der Staat eigentlich mit mir vorhat!

 

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