Der Staat Kapitel 33

29. April 2062, 16:01, Wien, Trainingszentrum des V-Kommandos

 

Der Wachmann gewährt uns Einlass nach Kontrolle unserer Personalien, tritt zur Seite, hält seinen Daumen auf einen Scanner und drückt einen kleinen grünen Knopf auf einem Schaltpult, welches in der Wand rechts neben der Tür eingelassen ist.

Lautlos schwingt diese wie von selbst auf und gibt den Blick auf einen gut ausgeleuchteten, breiten, weißen Gang frei. Menschenleer, absolut geräuschfrei. Über seine gesamte Länge verteilt, mindestens einhundert Meter, steht ein grauer Spind neben dem anderen. In regelmäßigen Abständen unterbrechen weitere weiße Türen die Reihen von Kästchen.

"Willkommen im Trainingszentrum des V-Kommandos", verkündet Carik.

Oha. Oha. Ich weiß, ich sollte das vielleicht nicht fragen, aber es brennt einfach viel zu sehr in mir: "Aber wieso sind wir hier? Ich meine, wir sind doch erst Schüler?"

Darauf lacht Carik: "Da hast du vollkommen Recht", er führt uns den Gang hinunter: "Was du aber vergisst, ist, dass du kein gewöhnlicher Schüler bist…", meint er vielsagend. Und was ist Milet?

"Seid versichert ihr zwei, euch wird es hier gefallen", fährt Carik in seinen Ausführungen fort und beginnt zu erklären: "Das, was ihr während des Spezialtrainings macht, ist alles schön und gut, aber das hier ist einfach eine Nummer…ehm", er überlegt kurz: "größer. - Genau. Höher, weiter, schneller."

Also das nenne ich doch mal eine rasante Entwicklung... Erst normaler Schüller, dann V-Klässler mit Spezialtraining und jetzt werde ich mit den Männer und Frauen des V-Kommandos trainieren.

Carik drückt eine Tür zu unserer Rechten auf. Eine Umkleidekabine. Keine Menschen, dafür umso mehr Kleidung.

"Zieht euch um", befiehlt er und deutet auf Milets fragenden Blick hin auf die Sporttasche in meiner Hand: "Da sind zwei Garnituren drinnen."

"Aha", kommt es von Milet, dann verlässt der Kommandant den Raum. Die Tür fällt hinter ihm zu.

Mit der Tasche noch immer in der Hand drücke ich meinen Rücken durch und schaue mich um, finde einen freien Platz für uns zwei.

"Was hältst du von der Sache hier - dass wir auf einmal mit den V-Kommando-Leuten trainieren?", frage ich, lasse es so beiläufig wie möglich klingen.

"Hm", zuckt er mit den Schultern.

"Kommt es dir nicht auch eigenartig vor, dass wir so von einem Moment auf den anderen hier sein dürfen?", hake ich nach.

"Eigenartig…", murmelt er, denkt nach, meint anschließend: "Nein, eigentlich nicht. Hat doch alles seine beste Ordnung…"

Hä? Wie meint er das nun schon wieder? - Halt… Ich verstehe ihn irgendwie… Wie muss die Situation für ihn aussehen? Er wird herbeordert, um zu trainieren. Daran etwas ungewöhnlich zu finden, ist nach dem Verständnis des Staates höchst unnatürlich, da die gesamte Sache ja befohlen und damit für gut befunden worden ist.

"Stimmt", korrigiere ich mich langsam.

Verdammt! Wieder so ein dummer Fehler! Mein Wissen soll doch nicht entdeckt werden! Aber ich mache es ihnen ja geradezu kinderleicht!

Rasch ziehe ich mich fertig um, lasse die Sache für den Moment einfach sein und beschäftige mich nicht weiter mit der Frage nach dem 'Warum'.

"Kommst du?", halte ich Milet zur Eile an während ich gerade einige Schritte durch den Raum mache, um ein Gefühl für die Schuhe zu bekommen.

"Ja, ja", ruft er halblaut und motiviert, schließt die Klettverschlüsse und springt auf.

"Na dann", meine ich und greife nach der Türklinke. Mitten in der Bewegung halte ich inne, wundere mich: "Was sollen wir jetzt eigentlich tun?" Carik hat uns nur gesagt, wir sollten uns umziehen, nicht mehr.

Und keine zwei Augenblicke, nachdem ich die Frage ausgesprochen habe, meldet sich der Kommandant über die Ohrstöpsel: "Ich habe mich schon gefragt, wie lange ihr braucht, um euren Mangel an Anweisungen zu bemerken. Tja. Was soll's. Auf jeden Fall seid ihr jetzt fertig umgezogen wie ich sehe. Darum schicke ich nun jemanden, der euch abholen wird. Wartet einfach ganz kurz bitte."

Aha. Gut.

Wie vom Kommandanten versprochen, taucht etwa eine halbe Minute später ein großer, muskulöser Mann auf. Er ist geschätzte fünfundfünfzig, seine Haare zeigen schon die ersten Grauansätze, sein Drei-Tage-Bart gemeinsam mit einer Narbe über dem Auge und seiner somit fehlenden Augenbraue verleihen ihm ein Aussehen, welches mir klar macht, dass ich keine Intentionen hege, diesen Kerl zu verärgern.

"So, ihr zwei Burschen seid also die Jungspunde, die heute ein Kostprobentraining bekommen sollen?"

Verdattert schauen wir uns an, nicken langsam, ein wenig eingeschüchtert. 'Kostprobentraining?', steht uns ins Gesicht geschrieben.

"Jaja, die Neulinge stutzen immer, wenn ich mit dem Begriff komme. Sagen wir einfach, ich will wissen, woran ich bei euch bin. - Eine Einstufungsleistungsfeststellung wenn man so möchte", verbessert er sich selbst.

"Kling gut?", liest er aus unseren vorsichtig interessierten Gesichtsausdrücken: "Will ich ja wohl hoffen", zwinkert er, ordnet sofort anschließend an: "Folgt mir."

Wieder sind wir in dem langen, menschenleeren Gang. Diese Stille ist irgendwie einschüchternd.

Zwei Türen weiter betreten wir einen weiteren Raum. Er ist nicht besonders groß, dafür umso vollgestopfter mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen: Seile, Armschützer, Haken,… Auch Handschuhe, deren Handflächenstruktur mir eigenartig vorkommt, bei welchen mein Blick hängen bleibt. Interessiert mache ich einen Schritt auf sie zu, streiche mit dem Finger über ihre Innenseite, betrachte sie eingehend. Was das wohl für ein Material sein mag? Es fühlt sich komisch an - ungewohnt.

"Ja, diese Kletterhandschuhe sind schon etwas Schönes", kommentiert der Mann: "Eigentlich wollte ich dir ja einen Helm für das Training geben. Aber wenn dir die so gut gefallen, nimm sie dir."

Also schnappe ich mir die Handschuhe, streife mir den angenehmen Stoff über. Milet hingegen werden die Unterarmschützer zugeteilt. Er greift nach einem schwarz gefärbten Paar, bestehend aus einem Karbon-Kevlar-Keramik-Verbund - In der V-Klasse haben sie uns beigebracht, dass es sich hierbei um ein extrem stabiles Material handelt.

"Ahm…wie genau funktionieren die?", erkundige ich mich nach einem prüfenden Blick auf meine Kletterhandschuhe.

"Du ziehst sie an, wie normale Handschuhe. Sobald du etwas anfasst, bleibst du daran haften. Je glatter die Oberfläche, desto besser funktioniert es. Zum Lösen rollst du die Hand einfach nach vorne hin ab, sodass du bis zum Schluss mit den Fingern an der Wand bleibst." Er demonstriert es kurz an der Zimmerwand mit einem anderen Paar.

"Aber sei vorsichtig, sie werden dich halten, solange du ruhig bist. Wenn du aber an ihnen zerrst und ziehst, können sie sich durchaus versehentlich lösen."

"Ich werde aufpassen", verspreche ich.

"Und jetzt los", scheucht uns der Mann durch eine Tür hinaus, welche sich perfekt in die weiße Wand einfügt.

 

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