Der Staat Kapitel 34

29. April 2062, 16:13, Wien, Trainingszentrum des V-Kommandos

 

Bilder flimmern über die Bildschirme. Zwei Jungen betreten eine große Halle. Verwirrt schauen sie sich um. Für einen kurzen Moment bleiben sie stehen, blicken verwirrt um sich, setzen sich dann augenblicklich in Bewegung, laufen los.

Von hinten tritt eine Gestalt aus den Schatten des unbeleuchteten Raumes ins Licht der Bildschirme, stellt sich neben den Mann, welcher dort schon seit einer Weile in einem bequemen Ledersessel zu sitzen scheint.

"Haben Sie nun endlich, was Sie wollen?", bohrt Junos' Stimme durch die Dunkelheit: "Das ist immerhin noch ein Junge. - Was denken Sie sich eigentlich dabei?"

"Lassen Sie ihm Zeit. Lassen Sie ihn sich bewähren. Lassen Sie ihn zeigen, was er kann", hält Carik sachlich, freundlich und überzeugt dagegen.

"Was stimmt Sie so sicher, dass dieser Junge uns nicht alle ins Chaos stürzen wird?", beharrt Junos: "Wieso gestehen Sie sich nicht einfach ein, dass es ein Fehler war, Kris in die V-Klasse aufzunehmen, ihm all die neuen Dinge zu zeigen?", stimmlich die Hände ringend insistiert er: "Dieser Junge ist eine Gefahr für uns alle - für die Ordnung des Staates. Wir müssen ihn loswerden, ehe es zu spät ist!"

Ruhig kommt es vom Kommandanten zurück: "Das ist Ihre Sichtweise, ich habe eine andere. Beide basieren sie auf den Fähigkeiten dieses Jungen und gehen doch weiter auseinander als die zwei Klingen einer geöffneten Schere."

"Hmpf… Scheren…", brummt Junos: "archaische Dinger…", kommt dann zurück zum eigentlichen Thema: "Ich bitte Sie nun ein letztes Mal, beenden Sie diesen Wahnsinn, ansonsten sehe ich mich gezwungen, ihn zu beenden."

Monotone Worte hallen wieder in dem karg möblierten Raum, gesprochen von Carik: "Es gibt nur eine Sache, die wir beenden müssen und das ist unser ständiges Weglaufen vor Unbekanntem", er macht eine bedeutsame Pause: "Vermutlich fürchte ich mich genauso vor dem, was womöglich geschehen könnte. Aber ich komme nicht umhin, den weiteren Verlauf der Ereignisse zu verfolgen, ehe ich mir ein wirkliches Urteil bilden kann."

Die zwei Jungen kommen an einer hohen Wand an, nach einem kurzen Wortwechsel zwischen den beiden formt der eine schnell eine Räuberleiter und gewandt hangelt sich der zweite zur Kante nach oben, zieht dann den ersten nach.

"Sehen Sie das?", macht Carik Junos auf die Vorgänge am Bildschirm aufmerksam.

"Ja, was soll da so Großartiges sein?", tut dieser Milets und meine Leistungen mit einer schwachen Handbewegung ab.

"Beobachten Sie doch mal, wie sie arbeiten. Hätten wir Milet und Aran diese Aufgabe gestellt, sie hätten länger gebraucht. Kris hingegen - ich weiß nicht, wie man das in Worte fasst…", sucht Carik nach Ausdrücken: "…Kris, er…er…lernt wie von selbst… - ja, so kann man es wohl am besten ausdrücken. Denn ich wäre mir nicht bewusst, dass sie irgendwo schon einmal die Räuberleiter gelernt hätten, trotzdem hat Kris nur einige wenige Augenblicke gebraucht, um sie sich von einem Moment auf den anderen auszudenken und sie Milet zu erklären", führt Carik seine Überlegungen aus.

"Ich glaube, es gibt da ein altes Wort dafür", grübelt Junos, nachdenklich gemacht von dem, was er sieht: "…'Spontanität', so nannte man das glaube ich…"

 

Mit einem Schlag verändert sich das Bild in meinem Kopf und keine zwei Lidschläge zu früh stoppe ich ab, halte Milet ebenfalls zurück. Direkt vor unseren Füßen fährt schlagartig ein gepolsterter Quader aus dem Boden auf. Um ein Haar wären wir mit ihm kollidiert, im schlimmsten Fall in die Luft katapultiert worden.

Verwirrt schaut Milet mich an. Sein Blick lässt vermuten, dass er mich ab sofort in einem völlig anderen Betrachtungswinkel sehen wird.

 

Fast noch schneller als dieses Hindernis springt Carik in seinem Stuhl auf, sodass dieser nach hinten umkippt. Erschrocken macht Junos einen hastigen Schritt zur Seite, bevor ihm die Lehne auf den Fuß knallt.

"Haben Sie das gesehen?!", ruft Carik, in der Stimme gleichermaßen Schrecken, wie auch Verwunderung und Stauen, deutet aufgeregt auf den Bildschirm. In Bruchteilen einer Sekunde realisiert auch Junos die Tragweite der Situation, bringt nichts Anderes zustande, als zu hauchen: "Das…ist…"

"…unglaublich…", stimmt Carik bedächtig ein.

"Er…hat…"

"…die Zukunft vorausgesehen…", flüstert der Kommandant kaum hörbar.

Stumm stehen sie da, starren einander an. Von dem anfänglichen Hick-Hack ist keine Spur mehr zu sehen. Es gibt da nur noch eines - und es eint beide: das Gefühl, das ich nicht benennen kann. Sie haben Angst vor dem ihnen Unverständlichen, gleichzeitig wissen sie, wie wichtig diese Entdeckung für sie ist, auch ist ihnen bewusst, dass sie mich von nun an nicht mehr einfach nur den 'besonderen Jungen' nennen können, sondern…keine Ahnung…

 

Unsere Beine fliegen über den harten, weißen Boden. Wir müssen die andere Seite der Halle erreichen, das ist unsere Trainingsaufgabe. Und all die Hindernisse machen es uns nicht gerade leichter.

Keuchend meldet sich Milet neben mir: "Siehst du das auch? Dort vorne?", deutet auf einen breiten Spalt im Boden, gute zwanzig Meter vor uns, einen Weg um ihn herum gibt es nicht. Seine Umrisse zeichnen sich nur schwach gegen die Umgebung ab.

Schlitternd kommen wir am Rand zu stehen. Den Boden können wir kaum erkennen. Entweder er ist verdammt tief, oder nur fünfzig Zentimeter unter uns. Es ist alles nahezu perfekt ausgeleuchtet, kaum Schatten, keine auch nur so geringe Abweichung der Weißnuance. Somit ist es so gut wie gar nicht möglich, seine Tiefe abzuschätzen.

Die Wände links und rechts sind ebenfalls einfach nur weiß und glatt, sehr glatt. - Hm. Okay, ich käme hinüber, dank meiner Kletterhandschuhe, aber was ist mit Milet?

Grübeln starre ich auf die andere Seite des Grabens. Wie?

Da werde ich plötzlich zurückgerissen, trotzdem trifft mich die weiß gepolsterte Stange mit voller Wucht an der Schulter. An Seilen, die von der Decke irgendwo über uns hängen, schwingen gut zehn von diesen 'Pendeln' über den Graben hinweg, immer auf der Jagd nach jenen, die an den Rand des Spaltes treten und anschließend so wie ich getroffen zu Boden gehen und einen kräftigen blauen Fleck davontragen werden.

Schützend stellt Milet sich vor mich, wehrt mit seinen Unterarmschützern so gut er kann die Stangen zur Seite hin ab, sodass ich mich halbwegs sicher aufrappeln kann.

Immer vor und zurück, immer von der einen Seite zur anderen und zurück.

Mit einem Wink bedeute ich Milet, gemeinsam mit mir einige Schritte nach hinten zu weichen, außer Reichweite der Pendel.

"Hier, nimm den Handschuh", weise ich ihn an, streife meinen von der rechten Hand. Kommentarlos ergreift er ihn, streift ihn über.

"Und was jetzt?", betrachtet er seine nun behandschuhte Hand.

"Halt dich an einem der Pendel fest - lass los, sobald du auf der anderen Seite bist."

Sein Gesichtsausdruck verrät mir, was sein Selbsterhaltungstrieb von der Idee hält: "Das ist…"

"…verrückt", ergänze ich sachlich, grinse sofort darauf siegessicher: "Aber es wird funktionieren. - Vertrau mir."

 

Absolute, allumfassende Stille legt sich über den Raum mit den Bildschirmen, als die zwei Jungen auf die Schwungstangen zuspurten und sich festkrallen. Hörbar halten beide Anwesenden die Luft an, als der erste loslässt, sich auf den harten, weißen Boden abrollt, und atmen schlagartig aus, als auch der zweite sicher landet.

 

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