Der Staat Kapitel 35

29. April 2062, 16:21, Wien, Trainingszentrum des V-Kommandos

 

Der ältere Mann, unser zugeteilter Ausbilder wie ich meine, erwartet uns auf der anderen Seite der Halle mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, das Anflüge von Respekt und Unsicherheit zeigt.

Als wir bis auf zehn Meter an ihn herankommen, beginnt er anerkennend zu klatschen: "Wow. Und das sag ich nicht oft. - Ihr zwei seid...einfach wie für einander geschaffen. - Aber das war nur das Aufwärmen, jetzt wollen wir mal sehen, was ihr beide wirklich zustande bringt", verkündet er mit einem auffordernden Grinsen im Gesicht.

"Klingt doch gut", kommentiere ich prompt, ein wenig außer Atem, doch hoch motiviert.

Milet neben mir nimmt die Info einfach nur auf, stellt sich darauf ein, indem er sich zur Gänze aufrichtet, die Schultern strafft und probehalber die Finger zur Faust ballt.

Der Mann, dessen Namen wir immer noch nicht erfahren haben, führt uns durch eine weiße Doppelflügeltür hinaus auf einen weiteren, langen, weißen Gang. Diesmal nur ohne die Spinde. Schnurstracks geht er mit kräftigen, bestimmten Schritten voran, stößt den Zugang zu einem weiteren Ausrüstungsraum auf. Hier finden wir Berge von Schwimmausrüstung vor.

"Legt die Handschuhe und diese Armschützer ab", weist uns der Ausbilder an. Spontan gebe ich ihm den Namen Rorr. Irgendwie muss er schließlich heißen. Fragen möchte ich nicht, das tut man nicht. Wenn jemand nicht will, dass man etwas nicht erfährt, hat das seinen Grund.

Wir drücken ihm unser Zeug in die Hand, woraufhin er auf die Badehosen, Neoprenanzüge, Schnorchel und Atemgeräte deutet: "So, eine Hose, ein paar Unterwasserhandschuhe, eine Taschenlampe für jeden. - Umziehen könnt ihr euch dort hinten", verweist Rorr auf eine kleine, graue Tür hinter uns.

Exakt einhundertundzweiundzwanzig Sekunden später kommen wir laut der großen Digitaluhr an der Wand über dem Ausgang wieder heraus. Durch ein kleines Fenster neben der Tür kann ich ein Schwimmbecken erkennen. - Ein sehr tiefes Schwimmbecken…

Rorr hält uns je eine neue Linse, Ohrstöpsel und Armband hin: "Wasserdicht", begleitet er, entlässt uns dann hinaus in dem Raum mit dem Becken. Besonders groß ist dieser nicht, nur etwa zwanzig mal zwanzig Meter mit einer niedrigen Decke.

Klar liegt das Wasser vor uns, mindestens sechs Meter nach unten hin und es sieht so aus, als gäbe es in der Wand des Beckens mehrere kleine Gänge, welche in alle möglichen Richtungen abzweigen.

"Eure Aufgabe ist simpel: Findet den Schalter, welcher das Gitter zur anderen Seite hin öffnet. Ich treffe euch dort."

Tatsächlich wird eine der Unterwasseröffnungen von massiven Edelstahlstäben versperrt.

Milet springt hinein, kaum, dass Rorr den Raum verlassen hat, mit mir im unmittelbaren Schlepptau. Kalt umspült das Wasser meine Gliedmaßen, lässt meine Muskeln für einen kurzen Moment verkrampfen, mich im nächsten schon wieder fast panisch zurück an die Oberfläche rudern.

Laut bricht das Schlagen der Wellen über mich herein, als ich meinen Kopf wieder in die Luft bekomme.

Zwei tiefe Atemzüge, Milet erkundet bereits den ersten Gang, und ab dafür.

Erfahrungsgemäß habe ich knappe vierzig Sekunden Luft unter Wasser. Das reicht theoretisch, um ganz nach unten zu tauchen und wieder hinauf, wenn ich keinen Druckausgleich machen müsste…

Also lenke ich meine Aufmerksamkeit auf eine Öffnung in etwa anderthalb Metern Tiefe.

Ich passe gut hinein, schiebe mich mit meinen Handschuhen an den rauen Betonwänden circa drei Meter nach vorne, bis zum Ende der unbeleuchteten Röhre und muss erkennen, dass was ich dort finde, mir nicht hilft. Nämlich reines Nichts.

Ich spüre zwar noch nicht diesen gewissen Druck auf der Brust, dennoch schiebe ich mich unverrichteter Dinge rückwärts hinaus und ziehe mich anschließend am Rande des Beckens nach oben. Ruhe ein wenig aus.

Na das kann ja dauern… - Wie auch immer wir überhaupt zu dem Gang ganz am Boden des Beckens gelangen sollen…

 

Eine halbe Stunde - geschätzt - entzieht mir das Wasser schon die Wärme meines Körpers. Wirklich gefunden haben wir nichts. Mal von einem einzelnen Schnorchel in einer der unteren Röhren abgesehen. Milet nutzt ihn gerade, um zu versuchen, so tief wie möglich zu kommen, da wir den oberen Bereich bereits mehr als gründlich abgegrast haben. - Sechs Meter sind trotzdem nicht machbar.

 

"Gab es eigentlich schon mal jemanden, der da durchgekommen ist?", bemerkt Junos. Rorr schüttelt ausdruckslos den Kopf: "Nein. Wir nutzen dieses Becken eher dazu, ihre Durchhaltefähigkeit auszutesten."

 

Erschöpft hocken wir uns an den Beckenrand.

Irgendwie muss es doch zu schaffen sein! - Das bestätigt auch der Unterton Junos', der da gerade in meinen Gedanken aufgetaucht ist. Schwierigkeit, gut, Durchhaltevermögen, auch okay, aber uns eine Aufgabe stellen, die wir einfach nicht lösen können…

"Was tun wir jetzt?", wendet Milet sich ratlos an mich. Er hat die letzten zehn Minuten krampfhaft versucht, bis auf fünf Meter hinunterzukommen, was ihm aber in keiner Weise gelungen ist.

"Nachdenken…", murmle ich, versuche mich an Rorrs Worte zu erinnern, überlege laut: "Wir sollen den Schalter finden, der uns den Durchgang öffnet… Wo?", da durchfluten mich mit einem Mal drei Gefühle gleichzeitig. Erleichterung, ich glaube, die Lösung gefunden zu haben, Wut, wie konnte ich das übersehen, Groll geben Rorr und das V-Kommando, wieso sollten sie jemanden so quälen wollen?

Ich erhebe mich vom Beckenrand, gehe auf die Tür zu, durch die wir gekommen sind, finde daneben, was ich gesucht habe. Schnell ist der weiße Schalter gedrückt und wir vernehmen ein metallisches Kreischen. Diese Stäbe wurden schon eine Ewigkeit nicht mehr geöffnet.

Milets Gesichtsausdruck will so viel gleichzeitig darstellen, dass nur seine Augen sich bewegen, er seine Lieder aufreißt, mich stumm anstarrt.

"Bitte, wir können", komme ich lachend zurück zum Becken - da müssen die sich schon was Besseres überlegen, wenn sie mich aufhalten wollen!

Stille legt sich auf meine Ohren, als das Wasser erneut um meinen Körper strömt, meine Arme mich vorwärts schieben. Auf den Tunnel zu, unter der Wand durch, auf der anderen Seite nach oben.

Rorrs, Cariks und Junos' Gesichtsausdruck kann man einfach nicht beschreiben, wie sie mich da anschauen, als ich mich unschuldig und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen aus dem kühlen Nass ziehe und mich nach einem Handtuch umschaue. - Keines da. - Sie haben nicht erwartet, dass wir durchkommen.

 

In ein trockenes Handtuch gehüllt sitzen Milet und ich in einem kleinen Zimmer, kauen auf je zwei Müsliriegeln herum und warten darauf, trocken zu werden.

Seit ich aus dem Wasser gekommen bin, ist kein einziges Wort gefallen. Weder von Milet, noch von Carik, noch von Junos, noch von Rorr, noch von mir selbst. Still, mit eisernen Mienen hat man uns Handtücher und Riegel ausgehändigt und in diesen Raum gesetzt. Dass wir hier warten sollen, ist klar, aber auf was genau? Eine Gratulation? Eine Lobpreisung? Oder doch nur das nächste Auftauchen von Rorr - eine neue Übung?

Nichts dergleichen geschieht. Ja, es geschieht genau gar nichts.

Unsere kleine Jausenpause ist beendet, wir haben wieder unsere Kleidung an, die Handtücher und Badehosen zum Trocknen auf dem Laminatboden ausgelegt uns gegenüber hingesetzt, für einen Moment einander in die Augen geschaut, den Blick sofort wieder abgewandt.

Und nichts geschieht.

 

Man könnte direkt einschlafen, so viel zu tun haben Milet und ich.

Man könnte nirgendwo anfangen, so umfangreich ist unsere Aufgabe.

Man wüsste keine Lösung, so kompliziert und verworren ist die Lage.

 

Die Tür wird aufgestoßen, Junos stürmt herein. Seine Augen springen im Zimmer umher, bis sie sich endlich an mir festkrallen: "Du", deutet er mit versteinerter, fast bebender Miene auf mich: "Mitkommen."

So lassen wir Milet alleine zurück. Auf unserem Weg durch die Gänge kommt uns ein V-Kommando-Mann entgegen, der hoffentlich für Milet nur eines vorhat, diesen abzuholen.

Darf ich Junos diese eine brennende Frage stellen? - Er wirkt momentan nur sehr bedingt aufgeschlossen mir gegenüber…

Abrupt hält mein Spezialtrainer nach einigen Abzweigungen und Biegungen vor einer reinweißen Tür an. Dieses Gebäude muss riesengroß sein, wahrhaft riesig, nicht einfach nur riesig, nein ich meine tatsächlich riesig.

Auf einem Schild an der Wand neben der Tür steht geschrieben: 'Psychologische Untersuchung'. Ohne anzuklopfen verschafft Junos sich per Fingerabdruckscan oberhalb der Klinke Zutritt, bedeutet mir, einzutreten und verbleibt auf dem Gang. Hinter mir zieht er die Tür zurück ins Schloss.

Es steht bereits ein kleiner Tisch mit zwei gegenüberliegenden Stühlen daran bereit. Die Frau im weißen Kittel mit den streng nach hinten gebundenen Haaren sitzt auf einem, hält ein Tablet in der Hand, tippt darauf geschäftig herum. Sie sieht mich nicht einmal an, befiehlt leise, ruhig und so kalt wie der Asphalt an einem Wintermorgen: "Setz dich."

Gegen den Drang, die Schulter hochzuziehen, kämpfend nehme ich Platz, drücke meinen Rücken durch und lege die Unterarme auf den Tisch, warte stumm und vor allem neugierig auf weitere Anweisungen ihrerseits.

Endlich hebt sie die Augen, mustert mich mit der Präzision eines Skalpells und der Gründlichkeit einer erfahrenen Reinigungsfachkraft, befindet: "Du bist also Kris Feinberg?", ein schneller Blick hinunter: "17 Jahre alt? - Schüler der dritten V-Klasse in der dritten Schulstufe? - Wohnhaft bei Familie Flammenwolf? - Vormund Herr V-Kommando-Kommandant Carik Flammenwolf?"

Ein einzelner Nicker meinerseits.

"Gut", tippt sie auf dem Tablet herum, findet, was sie sucht und fährt fort: "Für dich wurde eine psychologische Untersuchung angeordnet…

Fangen wir an: Wie fühlst du dich derzeit?"

"Gut, kann nicht klagen", präzisiere nach einer gehobenen Augenbraue von ihr: "Nicht prächtig, aber auch nicht schlecht. Nur verwundert. Ich wüsste gerne, waru…"

"Du hast eine Aufgabe gemeistert, an der bisher jeder verzweifelt ist. Was denkst du darüber? Bist du glücklich?", schneidet sie mir meine Frage ab.

"Ja. Ich finde, das habe ich gut gemacht. Aber, ich würde jetzt wirklich…"

"Nehmen wir an, Milet hätte die Lösung vor dir gefunden. Was hättest du dir gedacht?", übertönt sie mich erneut.

"Ich wäre wohl nicht sehr zufrieden mit mir gewesen", gebe ich es resigniert auf, irgendetwas Brauchbares erfahren zu wollen.

"Seit wann weißt du denn, dass du anders bist?"

"Hä?"

"Seit wann kannst du Dinge, die andere nicht können? - Antworte wahrheitsgemäß." Erneut klebt ihr Blick am Bildschirm fest.

"Angenommen du wärst ein V-Kommando-Mitglied und beobachtest, wie ein Pannonier unerlaubterweise versucht, sich Zugang zum Staat zu verschaffen. Wie handelst du?" Jetzt schaut sie mir direkt in die Augen, die ich nur wenige Momente später selbst abwende.

"Nunja", überlege ich: "Zuerst würde ich ihn natürlich von seinem Vorhaben abhalten, anschließend werde ich ihn festnehmen müssen."

"Wenn nun dieser Mann zerrissene Kleidung trägt und halb verhungert ist?", hakt sie nach.

"Dann werde ich ihm selbstverständlich zu essen und neues Gewand geben", rutscht es mir heraus, bevor ich mich darauf besinnen kann, wie man es im Staat eigentlich mit Eindringlingen handhabt.

"A-hm", macht die Frau, notiert.

"Du beobachtest bei deiner Arbeit außerhalb Wiens eine hitzige Argumentation zwischen zwei Pannonieren und einem Staatsangestellten. Sie bezichtigen ihn, ihnen Essen gestohlen zu haben, er behauptet das Gegenteil. Wer hat Recht?"

Jetzt ist sowieso schon alles egal. Also werde ich nach meinem Gefühl antworten, so wie ich es für richtig halte: "Das kann ich so nicht sagen. In diesem Fall müsste man sich beide Seiten anhören und dann versuchen, das betreffende Essen bei der einen oder anderen Partei zu finden. Vielleicht hat auch jemand die vermeintliche Tat beobachtet, den man befragen könnte. Nur so kann man herausfinden, was tatsächlich vorgefallen ist."

"A-hm", wiederholt sie sich, stellt die nächste Frage: "Angenommen, der Flammenwolf befiehlt dir, den Vater und die Mutter eines kleinen Kindes festzunehmen - alle drei Pannonier - da man ihnen Diebstahl und Falschaussage nachgewiesen hat."

"Auf jeden Fall werde ich die beiden abführen…", antworte ich ehrlich. Zufrieden nickt die Ärztin.

"…werde aber auch das Kind mitnehmen und in der Obhut der Eltern lassen und dafür Sorge tragen, dass es ihm gut ergehen wird", vollende ich meinen Satz.

Jetzt ist es an der Zeit, den Kopf ein- und die Schultern hochzuziehen. Es ist nicht ihr Ausdruck, auch nicht ihre Haltung und nicht, was sie sagt. Sondern vielmehr eine kleine, verkrampfte Bewegung ihres rechten Zeigefingers, die nur einen winzig kurzen Moment andauert und trotzdem eine Macht in sich birgt, mit welcher sich nicht einmal das gesamte, vereinte V-Kommando messen könnte.

Was auch immer nun geschehen mag, es ist nicht gut für mich.

Ich habe ihnen mein wahres Gesicht gezeigt.

Und niemand weiß, was sie wirklich für mich haben.

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