Der Staat Kapitel 36

30. April 2062, 07:52, Wien, Schulzentrum

 

Wieder betrete ich die Klasse am Morgen. Die gleichen, schlaffen Gesichter blicken mir entgegen. Der gleiche, kalte Raum begrüßt mich. Wie sehr ich diese Routine, die mir der Staat aufzwingt, hasse. Mein Blick bleibt an Kris hängen, der sich bereits hingesetzt hat und mich auffordernd ansieht.

Obwohl ich es nicht ganz schaffe, ihn zu ignorieren, wende ich den Blick von ihm ab und setze mich hin. Ich bemerke, dass mein Verhalten nicht ganz richtig war, da er die einzige Hoffnung ist, die mir bleibt. Kurz lächle ich ihm zu. Meine Gedanken schweifen ab: Ich sitze mit Naan und unseren Freunden in dem geheimen Raum, in der Nähe von Emis Haus. Naan erläutert einen neuen Plan, und wie immer hängen alle gespannt an seine Lippen. Dann endet er und blickt jeden freundlich an. "Genug der Strategien", meint er. Kleine Grüppchen werden gebildet, es wird geredet, gelacht und gesungen. Das Singen, wie sehr ich es vermisse, obwohl ich es nie wirklich konnte. Leise summe ich die Melodie des Liedes vor mich hin, das mir Naan beigebracht hat. Ich spüre wie Kris mich rempelt, doch dann höre ich auf zu denken und fange einfach an, zu singen.

 

Wir gehen zusammen

Egal wie weit oder lang

So gehn wir von dannen

Hand in Hand

 

"Was tut sie da?", hörte ich jemanden hinter mir flüstern. "Warum redet sie so komisch? Tu etwas Kris." Stille kehrt wieder ein. Worte und Stille, die ich ignoriere, um weiterzusingen, in der Hoffnung diesem schrecklichen Ort entkommen zu können.

 

Soll kein Fels uns trennen

Keine Mauer uns entzwei`n

Mögen wir im Feuer verbrennen

So sind wir nicht allein

Wenn sie unsre Leben rauben

Unsre Seelen bleiben frei

Denn darauf habe ich Vertr…

 

"Raus!", schreit der Direktor, der mit geröteten Wangen und Schweiß plötzlich vor mir steht. Neben ihn muss sich die Lehrerin, deren Gesicht die Farbe der weißen Wand angenommen hat, Luft zufächern. Langsam stehe ich auf und drehe mich um. Die Gesichter, in die ich jetzt blicke, sind nicht mehr gelangweilt. Die meisten von ihnen wirken geschockt, sie wissen nicht, was sie tun sollen. Andere hingegen starren mich fasziniert an, und wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich fast gedacht, dass sie lachen. Auch Kris' Blick ist geprägt von diesen beiden Zuständen. Auch mir fehlen die Worte. Kennen sie denn keine Lieder? Dass der Staat schon zu solchen Mitteln greift?

"Tihana Sansamann, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie mich verstanden haben. Kommen Sie mit mir." Der Direktor packt mich am Arm und zerrte mich in sein Büro. Dort steht auch eine Sicherheitskraft. Erschöpft lässt sich der Direktor auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Die Sicherheitskraft, ein junger Mann, räuspert sich: "Der Staat wurde über ihr undankbares, respektloses und überaus seltsames Verhalten informiert. Sollten Sie weiterhin mit einem solchen Verhalten den Unterricht stören, seien Sie versichert, dass sowohl ihre Freunde als auch Sie mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen haben!" Er lässt mir keine Zeit zum Antworten, sondern starrt mich nur noch kurz an und macht schließlich auf dem Absatz kehrt.

"Sie haben seine Worte gehört", meldet sich jetzt der Direktor: "Ich wünsche noch einen angenehmen Tag." Wortlos verlasse ich den Raum und knalle die Tür hinter mir zu. Draußen wartet ein V-Kommandomann auf mich, um mich wohl wieder zurück in meine Klasse zu begleiten. Ich gehe bewusst langsam, einerseits, um den Mann zu nerven, und andererseits, um mich zu beruhigen. Doch ich schaffe es nicht. Tränen strömen über meine Wangen und gleichzeitig spüre ich eine enorme Wut in mir. Er funkt kurz: "Tihana ist unter Kontrolle, wie soll ich weiter verfahren?". Genervt und von der Antwort verwirrt sieht er mich an.

"Der Kommandant wird dich jetzt abholen", meint er kalt. Wir verlassen das Schulgebäude und lehnen uns an die Betonmauer neben der Bushaltestelle. Ich kann immer noch nicht glauben, was passiert ist. Der Staat hat ihnen sogar das Singen verboten. Wie kann er es nur wagen, eines der schönsten Dinge der Welt seinen Bürgern zu verschweigen. Kein Wunder, dass alles hier so trostlos und grau wirkt. Mir kommt Naan in den Kopf, der jetzt gemeinsam mit den anderen in irgendeiner Zelle sitzt. Bei dem Gedanken an all die Dinge, die sie vielleicht mit Naan anstellen, steigen mir noch mehr Tränen in die Augen und ich schluchze. Der Kerl neben mir verdreht genervt die Augen. Wenige Momente später kommt Carik mit einem Militärjeep und der Mann bedeutet mir, einzusteigen, bleibt auf der Haltestelle zurück.

Niemand spricht ein Wort, bis wir zwei bei dem Wohnsitz der Familie Flammenwolf ankommen.

Auch jetzt, nachdem er geparkt hat, schweigt Carik noch immer.

 

"Setz dich", bittet Carik mich und ich nehme am Tisch Platz.

"Händige mir bitte Linse, Ohrstöpsel und Armband aus. Wir brauchen es, um die Daten vollständig auszulesen. Wir wollen diese Situation genau untersuchen. Ich gebe sie ihm also verwundert.

Nun geht er ins Bad und kehrt kurz darauf wieder zurück.

"Hör mir zu", sagt er, "Wie du vielleicht vermutet hast, habe ich nun ebenfalls keine Überwachungstechnik mehr bei mir. Wenn du mir irgendetwas zu erzählen hast, dann tu es jetzt." Verblüfft starre ich ihn an. Ist das ein Trick? Allerdings kann ich wirklich weder Linse, noch Ohrstöpsel, noch Armband entdecken. Aber er hat einen hohen Rang im Staat, warum sollte er diesen wegen eines Mädchens wie mir riskieren? Ich mustere ihn kurz. Er weicht meinem Blick nicht aus. Schließlich atme ich tief durch und alles bricht hervor. Die Worte kommen unkontrolliert aus mir heraus. Immer schneller, immer mehr, wie bei einem brechenden Staudamm. Ich erzähle von meiner Familie, wie sie und die Pannonier angefangen haben, mit dem Staat zu kooperieren. Ich berichte ihm von Naan und unseren Freunden, dem Leben im Nicht-Staat und wie sehr ich den Staat hasse und dass ich sie unbedingt retten muss. Plötzlich stoppe ich.

 

Carik fehlen die Worte. Ich bemerke, was ich ihm alles verraten habe und rücke verzweifelt mit dem Stuhl zurück. Nach einer Weile schluckt Carik und sagt: "Du scheinst kein schlechter Mensch zu sein. Aber das, was du vorhast, ist sehr gefährlich und strengstens verboten." Ängstlich sehe ich ihn an. Es scheint, als würde er mich nicht an den Staat verraten.

Doch dann öffnet er seinen Mund und ich kann kaum glauben, was ich höre: "Ich werde dir helfen." Mein Mund klappt auf. Carik? Warum möchte er mir helfen?

"Danke", stottere ich, bin so baff, dass ich keine Antwort herausbringe und gehe stumm, von Verwunderung erstarrt auf mein Zimmer. Was um alles in der Welt, war das gerade? Er ist wie…ausgewechselt. Oder war er jemals anders? Hat er sich vielleicht die ganze Zeit über verstellt und auf den rechten Moment gewartet?

Ich muss Kris davon erzählen! - Sobald er daheim ist.

Kraftlos sinke ich auf mein Bett. Jetzt muss ich diese Situation erstmal verarbeiten.

 

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