Der Staat Kapitel 38

1. Mai 2062, 8:32, Vorort, Quartier des V-Kommandos

 

Ich war allen Ernstes in der Annahme, in der Schule des Staates alles Wichtige über die Welt um mich herum zu lernen. Und nun muss ich mitansehen, wie jeder einzelne Schritt hinter Taro her mir mehr beibringt als eine halbe Stunde Unterricht - was sich auf einem Zwei-Stunden-Marsch natürlich aufsummiert…

Gut neunzig Prozent von diesen Pflanzen rund um mich herum sollen also essbar sein? Doch gemessen an der geringen Anzahl an giftigen, welche Taro Milet und mir nennt, beginne ich dieser Aussage zuzustimmen. Wobei anzumerken sei, dass das meiste zwar genießbar, aber nur bedingt schmackhaft ist - bestenfalls hat vieles den Geschmack von Papier.

Wenigstens verstehe ich jetzt, wieso wir hier olivgrüne Uniformen tragen sollen. Der 'Wald' rund um uns herum ist grün und dort, wo der Schatten hinfällt, eben dunkelgrün, also bietet unsere Kleidung eine perfekte Tarnung im Ernstfall.

Bäume bieten außerdem gute Aussichtspunkte, vor allem 'Eichen' wegen ihrer bis in die 'Krone' hinauf dick bleibenden Äste, sodass man sie gut erklimmen kann.

Mit einem Mal endet der Wald und wir stehen auf einer Anhöhe, sehen unter uns eine sehr weitläufige, grüne Fläche. In regelmäßigen Reihen, mit regelmäßigen Abständen dazwischen, wächst eine regelmäßige Anzahl von kleinen, grünen Pflänzchen.

"Weizen", will Taro den Anblick mit einem einzelnen Wort beschreiben, fügt unserer Blicke wegen hinzu: "Das sind die Pflanzen, welche den Grundstoff für euer Brot liefern. - Und seht ihr da hinten den Mann auf seinem Traktor?" Ein älterer, untersetzter Herr in schäbiger, stabil wirkender Kleidung fährt auf einem unförmigen, lauten Gefährt am anderen Ende der begrünten Fläche entlang. Von der Ferne winkt er Taro zu, welcher antwortet und dann weiter erklärt: "Das ist der Bauer, der dafür Sorge trägt, dass sich diese Pflanzen gut entwickeln."

So viele neue Dinge mehr zeigt er uns. Alles, was wichtig ist, um sich im Nicht-Staat zurechtzufinden, sich mit den Bewohnern zu verstehen.

 

Kaum dass wir zurück durch das Maschendrahttor schreiten, vernehmen wir eine wunderschöne Stimme den gesamten Vorort erfüllen. Die Leute verharren für einen Moment, lauschen Tihanas Lied. Wie eine sich aufbauende, unsichtbare Mauer vor mir, stoppen mich die ersten Töne, welche ich vernehme:

 

So sind wir nicht allein

Wenn sie unsre Leben rauben

Unsre Seelen bleiben frei

Denn auf darauf habe ich Vertrauen

 

Krampfhaft löse ich mich aus meiner Starre, suche mit meinem Blick nach ihr, doch kann nur der Melodie folgen. Unbewusst setze ich mich in Bewegung, halte auf den Gesang zu. Dann entdecke ich sie, wie sie da oben steht auf einem Balkon, die Augen starr geradeaus auf den Horizont zu. Ihr Gesicht ist nichts als eine kalte Maske der Ablehnung gegenüber den zwei Personen - ihre Eltern aller Wahrscheinlichkeit nach - am Eingang des Hauses. Deren Stimmen, Versuche mit ihrer Tochter zu sprechen, werde von ihrem Gesang einfach fortgewischt, wie ein einzelnes Blatt von einem ausgewachsenen Sommergewitter.

 

Dass dieser Bund unendlich sei

Deine Stimme in meinem Herz

Dein Lachen in meinen Ohren

Pures Glück, kein Schmerz

 

Gebrochen wenden sich Tihanas Eltern ab, gehen ihrer Wege, mit dem Schmerz in ihren Herzen, der aus dem ihrer Tochter gewichen ist.

Sie tun mir leid. Solange, bis ich mich an Tihanas Geschichten über die beiden besinne.

 

Nachdem sie geendet hat, legt sich für einen kurzen Moment, so vergänglichen, wie ein Sandkorn auf der Wasseroberfläche, vollkommene Stille über den Ort, hüllt ihn ein, wie schwerer Samtstoff.

 

Abendessen.

Carik, Tihana, Milet, Aran und ich sitzen alleine in einem getrennten Zimmer. Ein Kellner trägt auf.

Der Kommandant beginnt beiläufig, zwischen Suppe und Schnitzel ein Gespräch: "Wie war euer erster Tag hier?"

"Lass es mich so ausdrücken", stoße ich vor: "Mir fehlen die Adjektive dafür. Es ist…", breche ich ab, überwältig von dem Gedanken an diese Freiheit, dieses Glück, diese sich langsam stillende und selbst wiederaufbauende Neugierde.

Tihana hilft mir begeistert aus: "Ich weiß! - Keine Sprache der Welt kann dieses Gefühl beschreiben!"

Kein-e Sprache?

"Keine Sprache? - Soll das heißen, die Leute reden woanders nicht so, wie wir?", stutze ich.

"Nein", antwortet Carik, schluckt hinunter, fährt fort: "Ist dir noch nicht aufgefallen, das Tihana und Taro die Worte anders betonen, als Milet, oder Aran, oder du, oder ich?"

"Hm…", überlege ich.

"Norisch ist nicht unsere Muttersprache, nicht die Sprache, die wir von klein auf gelernt haben", fügt Tihana an: "Wir reden hier Pannonisch. - Der Unterschied ist nicht so groß, aber doch da."

"Wie klingt das?", macht Aran zum ersten Mal, seit unserer Ankunft hier den Mund auf.

Auf den ersten Blick fremde Töne kommen über Tihanas Lippen.

Sie hat Recht, es klingt sehr ähnlich, aber die Wörter ergeben keinen Sinn für mich.

Carik erwidert prompt etwas, gebrochen und mit gut fünf 'ähs' darin, aber doch.

Erstaunt setzt Tihana die Konversation fort.

Jetzt wechselt der Kommandant prompt zurück ins Norische: "Mir geht es auch gut, danke", nickt ihr wohlwollend zu, zwinkert.

"Ja…gut…", murmle ich skeptisch mit einem "Was-zum?"-Unterton.

"Und, was machen wir morgen?", lenkt Milet das Gespräch, ohne es bewusst zu wollen, zu einem anderen Thema.

"Morgen…", startet Carik.

"…zeige ich euch die Landschaft hier. Ich kenne ein paar wirklich coole Plätze!", platzt Tihana dazwischen.

"…werden Aran und Milet sich die Arbeit hier im Vorort ansehen, sowie beginnen, diese zu erlernen. - Eine sehr interessante Sache. - Wohingegen, Kris mit Tihana gehen wird und sich das eigentliche Pannonien zeigen lassen wird", endet Carik mit einem kurzen, aber bestimmten Blick zu meiner 'Schwester'.

Bin ich der Einzige, der meint, dass ich es am besten getroffen habe? Aran und Milet zumindest wirken so, als wären sie froh, hierbleiben zu dürfen.

 

Nach dem Abendessen klopft es an meiner Zimmertür. Schlaftrunken öffne ich, schaue in Tihanas Gesicht, welches im Halblicht der Nachtbeleuchtung so verändert wirkt, wie eine kleine, zarte Blume vor und nach dem Sonnenaufgang. So wie immer und trotzdem so viel besser.

Schüchtern hält sie ihre Hände hinter dem Rücken.

"Hm?", mache ich fragend, will wissen, was sie möchte.

"Hier", überreicht sie mir etwas zurückhaltend und unsicher ein rotes Baumwoll-T-Shirt, eine grüne Outdoor-Sport-Jacke und eine dunkelblaue Jeanshose.

"Hä?"

"Für morgen. Das trägt man hier, wenn man nicht gerade ein Staatsangestellter ist, oder sonst etwas mit Wien zu tun hat…", meint sie, jetzt etwas selbstbewusster, die Augenlieder aufschlagend: "Ich hoffe, es passt dir. Ich konnte die Größe nur schätzen…"

Probehalber halte ich mir das Shirt vor die Brust.

"Ach, Mist", murmelt Tihana: "Zu weit…"

"Hm", kommentiere ich: "Nicht so schlimm. Eigentlich doch vollkommen egal, oder nicht?" Ich hatte noch nie Kleidung, welche nicht genau passte. Das ist neu. Und neu ist interessant. Wie es sich wohl anfühlt?

"Nein. Ich hätte…", bricht sie ab, schaut mir in die Augen, bemerkt, es stört mich wirklich nicht, ich bin ja sogar eher froh darüber. Mal vollkommen abgesehen von dem, dass sie sich die Mühe gemacht hat, Gewand für mich zusammenzusuchen.

Unruhig trippelt sie herum, schaut mich noch immer unsicher an.

"Gute Nacht", wünsche ich ihr, auch zur nochmaligen, positiven Bestätigung ihrer Handlungen, hänge ein: "Danke", an und streiche ihr über die Haare, fahre hinter ihrem Ohr bis zum Unterkieferansatz, lasse meine Hand sinken.

"Gute Nacht", seufzt sie, schaut meinen Fingern hinterher, welche sich verkrampft und verwirrt über mich selbst an den Türrahmen legen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0