Der Staat Kapitel 40

2. Mai 2062, Nachmittag, Pannonien, südlich des Vorortes

 

Wir sind auf einer Straße hierhergekommen. Also führt mich ebenjene auch wieder zurück zum Vorort. Gut.

Wir sind nicht lange gefahren, nur etwa fünfzehn Minuten. Die Distanz ist also auch nicht besonders groß. Maximal zwanzig, fünfundzwanzig Kilometer im schlimmsten Fall.

Marschrichtung ist klar. Immer schön nordwärts halten, die Sonne auf der linken Schulter.

Was ist passiert? - Ich weiß es nicht.

Im einen Moment bin ich neben Tihana unter dieser Eiche gelegen, habe mit ihr gejausnet, dann im nächsten Augenblick wache ich auf mit verschwommener Sicht, Kopfweh, fühle mich benommen und habe eine Einstichwunde auf dem Handrücken. Was alles darauf hindeutet, dass man mich mit irgendwelchen Mittel ausgeknipst hat.

Und das Schlimmste ist wohl nicht meine Betäubung, sondern, dass es außer Tihana niemand hätte sein können.

 

Wenn ich nicht bald Hoffnung schöpfen kann, endlich anzukommen, kann ich es vergessen, noch heute mit Carik oder überhaupt irgendjemandem sprechen zu können. Auch wenn die Sonne bestimmt noch für mehr als vier Stunden Licht spenden wird, werde ich nicht für länger als zehn Minuten weitergehen können.

Das ist eben das Fiese an Gift: Es ist nicht so, dass man hinterher aufwacht und alles ist vorbei - nein.

Diese Substanzen haben ein langes, kräftezehrendes Nachspiel.

Wobei mir auffällt, ich lebe ja noch. Also wollte sie mich bestimmt nicht töten, was wenigstens eine gute Sache in einem Heuhaufen schlechter ist. Fragt sich nur noch, was überhaupt ihr Motiv war?

Wollte sie abhauen? - Definitiv.

Wollte sie alleine sein? - Hm. Möglich.

Will sie zurückkommen in den Vorort? - Niemals.

 

Entkräftet sinke ich auf die Knie und rolle mich zwischen den Wurzeln einer großen Eiche zusammen.

 

Stimmen in der Dunkelheit hallen in meinem Kopf wider. Lichter brechen zwischen den Bäumen durch, verengen meine Pupillen. Schritte trampeln über den Waldboden, brechen die nächtliche Ruhe.

"Dort!", rufen sie: "Dort vorne muss er sein!"

Sie kommen. Wie gerne würde ich mich aufrappeln, ihnen furchtlos entgegentreten. Wer auch immer da kommen mag, mit denen werde ich auch noch fertig.

"Hier ist er", schreit einer, dreht mich auf den Rücken.

Ich kenne ihn.

Sie wollen mir nichts Böses! Kris, reiß dich zusammen!, bringe ich mich selbst zur Vernunft.

Milet. Aran. Carik. Das V-Kommando.

"H…hal…lo", bringe ich müde, erschöpft hervor. Carik richtet seine Taschenlampe auf meine Augen, zieht meine Lieder auseinander: "Hm. Pupillen scheinen okay. Aber…"

"Kris, was ist passiert?", wagt Aran einen vorsichtigen, schonenden Vorstoß.

"Betäubt…Tihana abgehauen…", murmle ich, möchte gerne mehr sagen, aber fühle mich, als wären meine Lippen aus purem Blei.

"Kommt, wir bringen ihn zurück", befindet Carik für das Beste. Ich kann kaum die Schlitze zwischen meinen Augenliedern offenhalten. Kräftige Arme packen mich, tragen mich aus dem Wald zur Straße hin, hieven mich auf die Rückbank eines Militärfahrzeuges. Dann fallen meine Augen vollends zu.

 

Ein weiß gestrichener Raum, vor dem gekippten Fenster lässt ein Ahorn einzelne Sonnenstrahlen durch, Vogelgezwitscher dringt herein. Ein weiches Bett unter mir, mit einer warmen Decke und einem großen Polster.

Ein stabiler, angenehmer Verband um meinen Kopf, ein Pflaster auf meinem linken Handrücken, eine Infusion an meinem rechten Arm.

Ein Krankenhaus?

Probehalber versuche ich, mich aufzurichten, sinke jedoch müde wieder zurück. Eines aber spüre ich: meinen Körper habe ich wieder völlig unter Kontrolle.

Außer mir ist hier niemand, Platz wäre auch kaum, der Raum hat vielleicht zehn Quadratmeter. Wo sind Carik, Aran und Milet? Ich…möchte…keine Ahnung, was will man in einer Situation, wie der meinen? - Klarheit? Antworten? Sicherheit?

Ja. Ich möchte Antworten. Nicht nur von Carik, sondern vor allem von Tihana.

Kraftvoll lege ich die Decke zur Seite - und muss erkennen, dass man mir nur die Unterhose gelassen hat. In diesem Aufzug kann ich wohl schlecht hier herumgehen und nach meinen Freunden suchen. Wobei das ja eigentlich auch nicht mehr nötig ist, da in diesem Augenblick die Türklinke hinuntergedrückt wird.

Eilig ziehe ich die Decke zurück, lasse mich in das Kissen sinken und erwarte den Besucher mit einem fragenden Blick.

Zwei Personen erscheinen: Carik und eine Ärztin.

"Wie fühlst du dich?", möchte mein 'Vater' sofort erfahren.

"Eigentlich gut. - Darf ich aufstehen?", wende ich mich an die Frau, welche den Stand der Infusion und den eines angeschlossenen Blutscanners überprüft.

"Ja", nickt diese nur nachdenklich, schaut weiterhin auf die Anzeige des Messgerätes, murmelt dann in Cariks Richtung: "Das Zeug hätte ihn umbringen können, wenn er nur eine Spur mehr davon abbekommen hätte…"

"Nicht hier", wehrt dieser eine weitere Diskussion ab, rechnet aber nicht mit mir: "Was ist überhaupt genau passiert?"

"Du wurdest mit einem Cocktail aus diversen Chemikalien betäubt, darunter vermutlich Stoffe, die wir der Gruppe der 'Tranquilizer' zuordnen. So genau kann ich das zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Entweder du hattest großes Glück, oder dein Angreifer wusste genau, was er tat. Denn wie gesagt, es hat nicht viel gefehlt und ich hätte deinen Leichenschein ausstellen dürfen", erklärt die Ärztin mit so wenig Wimpernzucken wie es nur geht. Naja, ist in ihrem Beruf wahrscheinlich wichtig, sich emotional vollkommen abzuschotten…

Nun möchte ich endlich aufstehen, besinne mich zum Glück noch früh genug: "Ähm…ihr…hättet nicht zufällig etwas Anzuziehen für mich?"

"Hier", meint die Ärztin, kramt kurz in einem Koffer, der außerhalb meines Sichtfeldes unter dem Bett steht herum und drückt mir dann meine schwarze V-Kommandouniform in die Hand. Anschließend nimmt sie noch den Infusionsschlauch von meinem rechten Arm weg, entfernt sich mit Carik aus dem Raum.

Wenige Augenblicke später trete ich zu ihnen auf den Gang, womit meine Vermutung um meinen Aufenthaltsort vollends bestätigt wird. Ich bin hier im 'Krankenhaus' des Vorortes, was mehr eine Zehn-Bett-Krankenstation ist.

"Sehr gut", kommentiert Carik, bedeutet mir, ihm zu folgen. So lassen wir die Ärztin hinter uns zurück und marschieren in das Verwaltungsgebäude des Vorortes.

Geschäftig laufen einige Staatsangestellten hin und her, gehen ein und aus. Wir steuern schnurstracks auf eine schwarze Tür mit der Aufschrift 'Kommandozentrale' im zweiten Stock des Gebäudes zu, welche sich auf Cariks Fingerabdruck hin unverzüglich öffnet.

An der V-Kommandofrau und den drei Soldaten vor einer Vielzahl an Bildschirmen vorbei führt der Kommandant mich in einen Nebenraum, der einer Verhörkammer ähnelt, jedoch durch das große, getönte Fenster, die kraftvolle Deckenlampe und die zwei Holzstühle am Holztisch wesentlich einladender wirkt. Wir nehmen Platz.

"Erzähl mir, was passiert ist", fordert Carik mich auf. Und ich erzähle. Ausflug, Essen, Schwarz, Benommenheit, Rückweg unter Nachwirkungen.

"Aha…", murmelt der Kommandant nachdenklich, will bestätigt haben: "Du weißt also definitiv nicht, wer dich betäubt hat? - Vermutest aber, dass es nur Tihana gewesen sein könnte?" Ich nicke.

"Dein Funkgerät und Tracker wurden beide zerstört aufgefunden", berichtet nun er: "etwa zweihundert Meter von diesem Platz unter der Eiche, den du beschrieben hast. Bis exakt zwölf Uhr fünfzehn hatten wir ein Signal von Tihana und dir, dann auf einmal nichts mehr. - Du vermutest also, du bist um etwa zehn Uhr eingeschlafen?" Ich nicke.

"Dann wurdest du aller Wahrscheinlichkeit nach im Schlaf betäubt. Wann bist du nochmal aufgewacht?"

"Mitte Nachmittag, vielleicht Anfang später Nachmittag."

"Hm", macht Carik. Eine lange, erdrückende Pause entsteht.

Nach einigen Minuten der vollkommenen Stille, welche mir und meinem geschundenen Körper irgendwie guttut, öffnet der Kommandant seinen Mund und verkündet: "Wir werden der Sache auf den Grund gehen." Er greift nach seinem Funkgerät: "Ich will eine Abteilung Männer in zwei Stunden einsatzbereit auf dem Hauptplatz stehen haben." Wendet sich dann wieder an mich: "Und du solltest bis dahin etwas essen gehen."

 

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