Der Staat Kapitel 42

4. Mai 2062, 8:02, Pannonien, Hügelbach

"Wir sind hier, um Tihana Sansamann zu finden. Nicht mehr, doch auch ganz sicher nicht weniger!", ruft Carik über den Platz: "Wir werden die gesamte Stadt durchsuchen und sämtliche Bewohner befragen. Haltet außerdem Ausschau nach ihrem Motorrad. Es werden jeweils drei Polizisten mit einem V-Kommandomitglied zusammenarbeiten. An die Arbeit. Wegtreten!"

Wir haben keine Spur, wir müssen irgendwo anfangen, selbst wenn es nicht viel Hoffnung gibt, sie hier direkt sofort zu finden, so erhalten wir vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt.

Carik fährt zusammen mit Aran, Milet und mir los.
"Wir werden uns mit dem näheren Umfeld von Tihana beschäftigen", erklärt der Kommandant und hält vor einem weißen Zweifamilienhaus mit rotem Dach.
Er betätigt die Glocke mit der Aufschrift "Corona".
Wenige Momente später wird die Tür von einer jungen Frau geöffnet - vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt. Lange, braune, volle, offene Haare, wache, abwehrende, braune Augen, schmal zusammengepresste Lippen, ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt und trotzdem weich.
"Randa Corona, habe ich Recht?", verlangt Carik Auskunft auf Norisch.
"Richtig", quetscht sie angespannt freundlich hervor, ihr Akzent ist hörbar, aber nicht störend.
"Gut, denn ich muss Ihnen einige Fragen stellen", beginnt der Kommandant und will eintreten.
"Halt", hält Randa ihn scharf und bestimmt zurück: "Was auch immer Sie besprechen wollen, das geht sicher auch hier." Im ersten Moment verdattert, macht Carik einige Schritte zurück, fängt sich dann ob des unerwarteten Wiederstandes, wieder.
"Ganz wie Sie meinen", bekommt Randa als herausfordernde Antwort: "Wir sind auf der Suche nach Tihana Sansamann - haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?", er bemerkt ihren abweisenden Gesichtsausdruck fügt monoton drohend hinzu: "Sollten Sie etwas vor uns verbergen, werden sie die Konsequenzen dafür tragen."

"Dessen bin ich mir wohl bewusst - Kommandant", betont sie seinen Titel, unterschwellig abwertend, abschätzig.
"Nicht in diesem Tonfall!", erhält sie prompt die verdiente Antwort. Carik muss einige Male tief durchatmen, sich beruhigen und kann dann mit der Befragung fortfahren: "Also: Wissen Sie etwas von Tihana?"
"Nein." Kurz und bündig, endgültig und unveränderlich.
"Nichts? Weder Sie, noch ihr Motorrad, noch sonst irgendein Zeichen ihrer Anwesenheit?", versucht es Carik, seine Enttäuschung mehr schlecht als recht verbergend.
"Wie sollte denn ein solches 'Zeichen' aussehen?", hakt sie selbstsicher nach.
"Ein Gespräch über sie, Freunde von ihr, welche sich komisch verhalten, vielleicht auch eine überraschende Abreise von Personen aus ihrem Umfeld", präzisiert der Kommandant.
"Nein." Schüttelt sie ausdruckslos den Kopf.
"Dann lassen Sie uns jetzt ein, wir werden Ihr Haus durchsuchen. Es wird nicht lange dauern", kommt Carik zum nächsten Punkt.
"Wieso sollte ich?", wirft sie gehässig zurück.
"Weil ich Sie sonst wegen Verrats und Behinderung der Staatsgewalt festnehmen werde", knurrt der Kommandant und schiebt sie weg vom Eingang.
Ergebnislos schauen wir in jedem einzelnen Raum nach, unter den Betten, in den Kästen, hinter Vorhängen, in Abstellkammern und im Keller. Außer Randas Eltern, einem älteren Ehepaar, welches soeben frühstückt, finden wir niemanden vor. Mein Ziehvater befragt die beiden ebenfalls noch kurz, jedoch ohne irgendetwas zu erfahren.
Resigniert verlässt Carik grußlos das Gebäude, marschiert in langen, festen, wütenden Schritten zurück zum Wagen.

"Kann es sein, dass wir von den anderen Bewohnern Pannoniens nichts Anderes erwarten können?", werfe ich in die bedrückende Stille im Auto.
Carik seufzt, brummelt irgendetwas Unverständliches und belässt es dabei. Aran und Milet zucken beide nur mit den Schultern als mein Blick die Frage auch an sie richtet.

"Felix Klemann?"
Der Mann mittleren Alters an der Tür nickt. Argwöhnisch mustert er uns.
"Wir sind auf der Suche nach Tihana Sansamann. Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen oder etwas von ihr gehört?", reißt Carik sich nach dem Rückschlag bei Randa zusammen und bleibt höflich.
"Nein", vernehmen wir Felix' stark akzentierte Antwort: "Es tut mir leid, dass ich nicht helfen kann. Ist ihr etwas zugestoßen?" Sein Gesichtsausdruck wirkt besorgt.
"Sie verschwand vorgestern spurlos. Wir vermuten, sie wurde entführt", erklärt Carik, froh darüber, hier nicht auf Ablehnung zu treffen.
"Oh…", murmelt Felix: "Warten Sie kurz, ich frage mal die anderen im Haus, ob sie vielleicht etwas wissen. Einen Moment bitte." Er geht zurück hinein, man hört verschiedene Stimmen sprechen, aber immer wieder nur die eine Antwort: "Eil." - Es bedeutet 'Nein'.
Felix erscheint wieder an der Tür. Seine Miene ist von aufrichtigem Beileid und einer Spur Sorge geprägt: "Niemand weiß etwas. Am besten versuchen Sie es mal bei den Geretos. Ihr Sohn und Tihana standen sich einmal sehr nahe. Eventuell können sie Ihnen weiterhelfen."
"Vielen Dank", verabschiedet sich Carik mit einem Lächeln und wendet sich zum Gehen.

"Wieso haben wir sein Haus nicht durchsucht?", verlangt Aran zu Recht zu erfahren.
"Felix ist ein aufrichtiger, ehrlicher Mann. Und er hätte anders auf uns reagiert, hätte er etwas zu verheimlichen. Außerdem sorgt er sich offenkundig ebenfalls um Tihana. - Ganz im Gegensatz zu Randa…", erwidert Arans Vater, stellt ihn zufrieden.

In Gedanken spiele ich das Gespräch mit Felix noch einmal durch und mit einem Mal flutet eine gänzlich neue Empfindung in mich. Felix meinte, dieser Rami und Tihana hätten sich einmal sehr gemocht… Irgendwie - ich weiß nicht… Es - dieses Gefühl unterscheidet sich so sehr von den restlichen... Und es sagt mir, Rami von Grund auf abzulehnen - ihn…zu hassen - ?


"Herr Geretor?", klopft Carik an.
Ein aufgelöst wirkender Mann von etwa vierzig Jahren öffnet, seine langen Haare hängen ihm wirr ins Gesicht und er steht da in seinem Morgenmantel.
"Herr Kommandant Flammenwolf?!", reißt er erschrocken die Augen auf. sein leichter Akzent verstärkt sein Erstaunen, seine Verwirrung - Angst? noch um ein Stück: "Worum geht es?"
"Tihana Sansamann ist abgängig", meint Carik kühl und schiebt den Mann zurück in sein Haus, verschafft sich Zutritt. Es scheint so, als hätte dieser Herr Geretor ein Geheimnis - oder er ist einfach nur geistig verwirrt.
"As test estehn, Sehitzes?", stürmt eine besorgte Frau, ebenfalls im Morgenmantel und mit ungekämmten Haaren, aus einer Tür in den Eingangsbereich. Von ihrem Pannonisch verstehe ich kein Wort. Als sie uns vier in voller Uniform auf ihrem Parkett stehen sieht, bleibt ihr erstmal der Mund offenstehen - was Carik nutzt, um auf Norisch zu Wort zu kommen: "Wir suchen Tihana Sansamann und gehen von einer Entführung aus. Jetzt werden wir Ihr Haus durchsuchen. Es wird nicht lange dauern." Selbes Prozedere wie bei Randa, mit dem selben Ausgang. Als wir gerade wieder beim Gehen sind, wendet sich Carik ein letztes Mal an die beiden: "Wo ist eigentlich Ihr Sohn Rami?"
"In der Schule, wo sonst?", antwortet die Frau etwas zu schnell - mit je einem flüchtigen Seitenblick zu ihrem Mann und Carik  - auf Norisch in einem gut hörbaren, aber nicht störenden Akzent.
"Aran, überprüf das doch mal schnell mit dem Bordtablet", weist der Kommandant seinen Sohn an und befiehlt dann Milet: "Und du schau mal in die Garage und hinters Haus. Ich möchte wetten, dass mindestens ein Fahrzeug fehlt." Die beiden laufen los. Nur mein 'Zieh-Vater' und ich bleiben zurück.
Das Ehepaar wirft sich einen eigenartigen Blick zu, als Carik gerade nicht hinsieht. Eine Ahnung sagt mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
"Ich hoffe für Sie, meine Annahme wird nicht bestätigt", wendet sich der Kommandant kühl lächelnd, ein etwaiges Geständnis fordernd an die beiden. Die Frau öffnet leicht den Mund. Carik zieht interessiert, auffordernd eine Augenbraue hoch. Der Mann scheint seine Lippen zwischen seinen Kiefern zerdrücken zu wollen.
"Nun?", hakt Carik nach. Keine Antwort.
"Na gut, ganz wie Sie wünschen", zuckt er daraufhin locker, selbstsicher mit den Schultern.
Aran kommt zurück und vermeldet: "Auch wenn die Daten alles andere als übersichtlich sind, konnte ich doch feststellen, dass er heute den ganzen Tag und gestern Nachmittag nicht zum Unterricht erschienen ist."
"Hier ist alles in bester Ordnung", ruft Milet von der Garage herüber: "Es fehlt kein Fahrzeug, alles an seinem Platz."
"Komisch", brummt Carik: "Es passt einfach nicht zusammen." Dann richtet er seine Abschiedsworte an die Geretors: "Sollten Sie Wissen besitzen, welches uns die Aufklärung dieser Entführung ermöglichen könnte, haben Sie uns dies nun mitzuteilen. Wir werden dahinterkommen, wenn Sie uns etwas verbergen - früher oder später.", betont Carik bedrohlich, kehrt dann zurück zu einem vernünftigeren Tonfall: "Sie tun weder sich noch Ihrem Sohn etwas Gutes, wenn Sie uns etwas verschweigen." Und geht.

"Also wirklich aufschlussreich war das ja nicht…", murmelt Aran.
"Nein, nicht direkt", stimmt sein Vater ihm zu: "Trotzdem werden wir der einzigen Spur folgen, die wir haben. Wir werden jetzt Rami Geretor durchleuchten und die Suche auch auf ihn ausweiten."


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