Der Staat Kapitel 43

4. Mai 2062, 11:56, Pannonien, Hügelbach

 

Unverrichteter Dinge kommen wir am Speisesaal an, nehmen stumm, in Gedanken versunken, unser Mittagessen zu uns.

"Es scheint so, als wären die anderen Trupps ebenfalls nicht sehr erfolgreich gewesen", brummelt Carik, nimmt einen weiteren Bissen.

 

"Waren wir damit die Erfolgreichsten?", unternimmt Aran einen kleinen, ein wenig erfreuten Vorstoß: "Immerhin haben wir so etwas, wie eine Vermutung, dass dieser Rami Geretor etwas damit zu tun haben könnte?" Er macht mehr eine Frage, als eine Aussage daraus.

"Schon", meine ich: "Aber da wir weder wissen, wo er ist, noch irgendeinen anderen Anhaltspunkt haben, wird das schwierig werden…" - Im schlimmsten Fall sind die zwei miteinander durchgebrannt. Ein unwillkürliches Knurren entkommt mir, was mir erstaunte Blicke von den anderen einhandelt.

"Stimmt etwas nicht?", wundert Milet sich.

"Nein…nein…es ist nur…ich - bin nur wütend - irgendwie…", murmle ich beiläufig, wende den Blick ab, hoffe, kein weiteres Aufsehen zu erregen.

"Wir…könnten versuchen", beginnt Milet: "…Ramis Umfeld zu befragen."

"Ja, das könnten wir durchaus", stimmt Carik ihm zu: "Fragt sich nur, wie weit die Sache gehen wird. Im Endeffekt suchen wir dann vielleicht den entfernten Cousin eines Freundes eines Bekannten eines Freundes von Rami."

"Und wenn schon", werfe ich ein, mit einer solchen Bestimmtheit in der Stimme, dass Carik irgendwie zufrieden, die selbe Zielstrebigkeit übernehmend, seine Gabel weglegt, aufsteht und losmarschiert.

"Worauf warten wir dann noch?", hören wir noch, als er den Speisesaal verlässt.

Unverzüglich hefte ich mich, gefolgt von Milet und Aran, an seine Fersen.

Auf dem Weg erklärt der Kommandant uns: "Die IT hat in Bezug auf Tihana leider nichts Brauchbares aus den Daten der wenigen Kameras im und rund um den Vorort sowie Hügelbach herausholen können", dann lächelt er verschmitzt: "Vielleicht aber finden sie etwas von Rami Geretor…"

Er stößt eine Tür auf: "Männer!", sein Blick fällt auf das eine weibliche V-Kommandomitglied der Fünfer-Gruppe im Raum: "und Frauen. Euer neues Ziel heißt Rami Geretor. Ich wollte nur kurz persönlich vorbeischauen, überprüfen, wie es um euch steht", entschuldigt er dann sein plötzliches Eindringen und befiehlt zum Abschied: "Weitermachen. Wiedersehen."

Die Tür fällt zu.

"Gut - und wir?", möchte ich erfahren.

"Wir…", macht Carik eine kleine Kunstpause: "…werden uns jetzt in den Jeep setzten und uns über Rami Geretor schlau machen."

Gesagt, getan.

 

"Hier, ich hab die Liste seiner uns bekannten Freunde, Bekannten und so weiter", vermeldet Aran nach zwei Minuten angespannter Stille im Wagen.

"Gut, teil sie auf und schick sie an die Suchtrupps weiter. Häng auch jene, die um eine Ecke mit Rami bekannt sind, dran", befiehlt Carik.

In diesem Moment piept sein Funkgerät.

"Kommandant hier. Was gibt es? Over", meldet er sich.

"Hier spricht die IT. Wir haben hier etwas Interessantes gefunden. Over", kommt es mit leichten Störsignalen als Antwort.

"Lasst hören. Over."

"Okay. Also Rami Geretor hat am zweiten Mai sein Haus vermutlich so gegen sieben Uhr fünfundvierzig auf seinem Motorrad verlassen - so genau können wir das nicht sagen, weil wir nur die Kamera von der Nebenstraße haben. Bei der Schule ist er jedenfalls nicht aufgetaucht, sondern weiter Richtung Norden gefahren. Um neun Uhr zwölf war er nämlich am Südtor des Vorortes. Anschließend hat er sich mit jemandem getroffen. - Den Namen haben wir noch nicht. Der Computer sucht gerade. - Zusammen mit diesem Jemand ist er dann auf jeden Fall um elf Uhr zweiundzwanzig wieder auf seinem Motorrad erneut durch das Südtor und damit in südlicher Richtung vom Vorort weggefahren. Diese Vorgänge kamen uns schon so an sich äußerst eigenartig vor, zumal sie am Vormittag passiert sind, wo der Junge doch eigentlich in der Schule sein sollte. Hinzu kommt noch, dass dieser Jemand - ein Bursche etwa zwanzig Jahre alt - alleineX eine halbe Stunde nach zwei Uhr nachmittags per Bus zurück in den Vorort gekommen ist. Zuvor ist er zehn nach eins mit Ramis Motorrad durch die Straße gefahren, in der wir ein Bild von Rami am Morgen haben. Seit diesem Zeitpunkt haben wir keine Spur mehr von Rami Geretor gefunden. - Ah, was ich noch vergessen habe. Als die beiden - den Vorort am Vormittag hinter sich gelassen haben, haben sie einen Rucksack dabeigehabt, welchen Rami zuvor nicht hatte. Er scheint gut gefüllt gewesen zu sein. - Das war jetzt alles. Wir hoffen, es nützt. Over."

"Definitiv", murmelt Carik erst nachdenklich, dann überaus zufrieden, siegessicher, von irgendetwas überzeugt, lächelt: "Vielen Dank. Kommandant Over."

"IT Over. - Ah. Stopp. Wir haben seinen Namen: Julian Holzer. Wohnadresse wird soeben übermittelt. IT Over."

Mein 'Zieh-Vater' tritt aufs Gaspedal.

 

"Okay", meint Carik kurz bevor wir am Südtor zum Stehen kommen, um kontrolliert zu werden: "Dieser Julian Holzer ist unsere einzige Spur zu Rami und damit zu Tihana. Er lebt alleine in einer Dachgeschosswohnung in einem Mehrparteienhaus. Wenn wir ihn erwischen wollen, müssen wir alle Ausgänge umstellen. - Was in diesen Momenten schon geschehen sein sollte. Hoffen wir, dass wir ihn aus den Händen unserer Kollegen ablieferbereit serviert bekommen…"

Kaum sind die Torwachen fertig, drückt der Kommandant schon wieder das Pedal bis zum Boden durch.

Die Straße, in welcher dieser Julian wohnt, ist vollgestellt mit Polizeiwägen sowie zwei Fahrzeugen des V-Kommandos.

Aber die Gesichter der Anwesenden wirken allesamt nicht besonders fröhlich.

Dunkle Vorahnung zeichnet sich auf Cariks Gesicht, als er an den befehlshabenden V-Kommandomann herantritt: "Hat er sich verschanzt?" Nicken. "Geiseln?" Ernstes Nicken. "Wie viele?"

"Das gesamte Haus", erhalten wir die ernüchternde Antwort.

"Wie jetzt?", wundert sich der Kommandant.

"Er hat im ganzen Gebäude Sprengsätze und Bewegungsmelder installiert, niemand kann rein oder raus ohne in die Luft zu gehen. Erst kurz vor unserem Eintreffen kann er sie scharf gemacht haben. - Irgendwie muss es ihm gelungen sein, sich in unseren Funk zu hacken…", brummt der Mann in Uniform.

"Hrmpf", schnaubt Carik und wirft einen verlorenen Blick die Wand des vierstöckigen Gebäudes hoch: "Dann müssen wir diese Auslöser entschärfen… - Haben wir einen EMP-Werfer da um die Elektronik der Bomben auszuschalten?"

"Nein, daran habe ich auch schon gedacht. Aber die stehen alle in Wien", erwidert der Offizier.

"Dann sollen sie uns einen Hubschrauber mit dem Ding vorbeischicken", beschließt der Kommandant, greift kurzerhand zu seinem Funkgerät, betätig den Sprechen-Knopf, hält es sich an den Mund und verharrt in dieser Stellung für einige Sekunden der Erkenntnis.

"Vergessen wir das", meint er dann resigniert, lässt das Funkgerät wieder sinken: "Dieser Verrückte würde früh genug selbst auslösen, sobald er auch nur den Hauch eines Rotorgeräusches hört…"

"Und wenn wir einfach an der Außenwand hochklettern?", schlägt Aran tatendurstig vor, korrigiert sich sofort danach selbst: "Nein, selbes Ergebnis, wie beim Heli…"

"Er wird nicht ewig da oben bleiben können…", murmle ich, überlege zu Ende: "Aber die Zeit, ihn auszuhungern haben wir auch nicht…"

"Was ist mit Scharfschützen?", wirft Milet mit Blick auf die hohen Gebäude der Umgebung ein.

"Sind schon postiert. Sie bekommen keine Sicht auf unser Ziel. Er muss sich in einem Raum ohne Fenster eingeschlossen haben", erklärt der Offizier.

"Das heißt aber, dass er umgekehrt auch uns nicht direkt sehen kann?", schlussfolgere ich, sage es als Frage nur rein rhetorisch und überlege weiter: "Da er uns aber keinesfalls aus den Augen lassen darf, bedient er sich dazu wahrscheinlich einiger Kameras. Was bedeutet, wir können ungesehen bis zum obersten Stockwerk an der Außenwand hochklettern, wenn wir diese unbrauchbar machen oder einfach ihrem Blickfeld ausweichen. Sollte er es dann wagen, selbst nachsehen zu gehen, haben ihn die Scharfschützen." Jetzt erst wird mir klar, dass mir mindestens zwanzig Leute zugehört haben, dass ich das nicht nur gedacht, sondern auch gesagt habe.

"Oh, ich…äh…wollte nicht…", stammle ich verlegen, aus dem Konzept gebracht.

Für Carik aber scheint es nichts mehr weiter zu sagen zu geben: "Gerry, bereiten Sie ein Sturmkommando vor. - Außerhalb von Julians Sichtfeld."

"Jawohl", schlägt der Offizier die Hacken zusammen, marschiert von dannen, brüllt Befehle, ruft Leute zu sich, organisiert.

"Milet, Aran", sichert Carik sich deren Aufmerksamkeit: "Schnappt euch zwei Pistolen und jeder ein paar Polizisten. Macht sämtliche Überwachungstechnik in der Umgebung unschädlich. Notfalls mit Gewalt. - Und beeilt euch."

"Gut", bestätigen beide synchron und machen sich davon.

"Und wir?", frage ich.

"Wir?", Carik hebt grinsend eine Augenbraue: "Wir, mein Sohn, wir werden uns dem Sturmtrupp anschließen."

 

Es ist das erste Mal, dass ich so eine Sturmausrüstung anlege - abgesehen von der Übungseinheit in der Schule. Helm. Vollkörperanzug mit eingearbeiteten, leichten Panzerplatten. Eine Blendgranate und Waffen mit Gummigeschossen. Außerdem Kletterhandschuhe, deren Haftfunktion per Kopfdruck zu deaktivieren ist. Interessant.

"Wieso kann ich sie ein- und ausschalten? Was, wenn ich sie versehentlich während des Kletterns…nun ja…ausknipse?"

Carik grinst: "Hab ich mich damals auch gefragt. Ich erklär's dir. Man bleibt ja auf jeder glatten Oberfläche haften, also auch auf Teilen deiner Ausrüstung, wie deiner Waffe. An einer Hauswand ist das kein Problem, da sich die Handschuhe durch abrollen der Hand nach vorne leicht wieder lösen lassen. Doch es ist dann irgendwie blöd, wenn man nachladen will und das Magazin klebt einem an der Hand und man es nur durch langsames abrollen loswird…", verzieht Carik sein Gesicht zu einem augenzwinkernden Lächeln: "Deshalb gibt es den Knopf auf deinem Handrücken, wo du ihn während des Aufstieges nicht berühren wirst ihn, nachdem du angekommen bist, leicht drücken kannst."

"Okay", kichere ich unwillkürlich, obwohl die Vorstellung einer solchen Situation eigentlich ja nicht so schön ist. Aber der Anblick muss trotzdem lustig sein… Ein Soldat, der nachladen möchte und wie verrückt seine Hand schüttelt, um das Magazin loszuwerden.

 

"Vergesst nicht. Wir müssen uns still verhalten und ihn überraschen, sodass er keine Möglichkeit hat, manuell irgendetwas auszulösen." Carik atmet noch einmal tief durch, zieht sich das Visier ins Gesicht: "Fertig?"

"Fertig", antwortet der zwölfköpfige Trupp.

"Dann los." Er schwingt sich hoch, eine Hand nach der anderen. Man könnte meinen, seine Schultermuskeln noch durch die Uniform arbeiten zu sehen.

Still, schnell und schwarz bewegen wir uns wie übergroße Spinnen die Hauswand nach oben. Auf dem Weg spalten sich drei Dreiergruppen von uns ab. Wir werden an mehreren Stellen gleichzeitig einsteigen.

Kaum, dass wir angekommen sind, zückt die V-Kommandofrau neben mir ein kleines Gerät und beginnt die Fensterscheibe anzuschneiden, hinter welcher ein verlassenes Wohnzimmer auf uns wartet. Nach nur wenigen Sekunden zieht die Frau mit einem kleinen Saugnapf ein großes Stück der Scheibe mit einem einzigen, kräftigen Ruck nach außen, direkt in ein Netz, welches dort unten von einigen Polizisten aufgebreitet wurde, damit die Glassplitter nicht in alle Richtungen davonfliegen und das Glas keinen unnötigen, enttarnenden Lärm verursacht.

Bei den anderen zwei Trupps links und rechts fallen ebenfalls Scheiben in Richtung Boden.

Mit einer simplen, kurzen, bestimmten Geste befiehlt der Kommandant den Zugriff, nachdem er sich durch einen schnellen Blick der Bereitschaft aller versichert hat.

 

Zufrieden kommt uns der Offizier von vorhin entgegen, als wir den mittlerweile erschlafften Julian Holzer durch die Haupteingangstür des Gebäudes schleppen, der es aufgegeben hat, sich fünf kräftigen V-Kommandomitgliedern widersetzen zu versuchen.

In diesem Moment wundert sich hinter mir eine tiefe, raue Stimme: "Wie konnte der Kerl überhaupt an so viel Sprengstoff kommen?"

Unsanft kommt Julian auf dem Asphaltboden zu liegen. Sich gehetzt, getrieben zu unseren Füßen umschauend versucht er sich selbst ein Bild der Lage zu machen, in die er sich da selbst gebracht hat.

Auf die vorherige Frage knurrt Carik in einem Anflug von Überlegenheit: "Das wird er uns hoffentlich selbst erzählen." Dann packt er Julian an den Schultern und zieht ihn auf die Beine.

"Ab mit ihm", befiehlt der Kommandant.

Grobe Hände ergreifen den jungen Mann und zwingen ihn in einen bereitstehenden Gefangenentransporter der Polizei.

 

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