Der Staat Kapitel 45

4. Mai 2062, 6:30, Pannonien, Vorort

 

Die Morgensonne spiegelt sich auf den Scheiben des V-Kommandofahrzeuges, gerade noch so kämpft sie sich durch die von Süden her aufziehende Wolkendecke. Wir haben eine Richtung, wir haben ein Ziel, wie haben einen Weg.

Und wir fahren alleine - nur Carik, Aran, Milet und ich. - Das und noch etwas ist es, was ich Julian versprechen musste. Die zweite Bedingung war hart und beim zugehörigen Zähneknirschen habe ich mir vermutlich einen guten Teil meiner Zähne weggemahlen: Rami darf nichts geschehen und wir dürfen ihn nicht für seine Taten bestrafen.

"Also dann los", verkündet der Kommandant die Vorbereitungen für abgeschlossen. Auch wenn wir nur zu viert sein mögen, so haben wir doch genug Material und Ausrüstung für eine halbe Armee dabei.

Wir steigen ein. Carik startet den Motor. Der Weg ist weit und wir wollen ihn heute schaffen.

 

Wie zu erwarten war, setzt nach gut einer halben Stunde leichter Regen ein, der sich von Minute zu Minute steigert, bis schließlich die Scheibenwischer Probleme haben, hinterherzukommen.

 

Der Asphalt wird brüchig, löchrig, uneben, unruhig. Carik stellt die Federung weicher ein und hebt die Kabine ein wenig an, um uns mehr Bodenfreiheit zu geben.

 

Mittag, gegessen wird im Fahrzeug, Pause können wir uns keine leisten, während wir die hinter Wolken versteckte Sonne nach Süden jagen.

Man kann das mittlerweile schon nicht mehr Straße nennen, wo wir uns fortbewegen.

 

"Sind überhaupt noch auf dem richtigen Weg?", meldet sich Aran so gegen zwei.

"Ja, sind wir", kommt es von Carik zurück.

"Aber auf dieser 'Straße' ist doch seit Ewigkeiten niemand mehr gefahren", widerspricht mein 'Bruder'.

"Außer Tihana und Rami", werfe ich ein.

"Die Route interessiert seit gut vierzig Jahren keinen Menschen mehr", erklärt Carik: "Einige Staaten im Süden sind nicht gut auf den Staat zu sprechen und umgekehrt, da hat man diese einstmals große Straße einfach verkommen lassen."

"Deshalb flieht Rami also in den Süden", überlege ich: "Er glaubt, hier vor uns sicher zu sein, weil wir es nicht wagen würden, ihn dorthin zu verfolgen?"

"Das war auch meine Überlegung", stimmt der Kommandant zu.

 

"Rami?", schlägt Tihana die Augen auf, erkennt die Situation, in der sie ist: "RAMI!?"

"Ruhig", flüstert er, streicht ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht: "Alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit."

"Was? - Nein. Rami… du… verstehst das nicht… ich…", stöhnt Tihana, will sich aufrichten, sackt zusammen.

"Ruh dich aus", haucht Rami, hält Tihana eine Wasserflasche hin. Zwei Schlucke später fallen ihre Augen wieder zu.

Wütend steht Rami auf, knurrt in sich hinein: "Was - habt - ihr - mit - meiner - Tihana - gemacht?!"

 

"Nicht mehr lange und wir sind da", kündigt Carik erschöpft an.

Das Abendrot versucht, durch die grau-schwarze Wolkendecke zu brechen, scheitert jedoch kläglich.

 

Hinter der nächsten Kurve tauchen Häuser auf. Verlassene, zerstörte, verfallene, von der Natur zurückeroberte Häuser.

"Was ist das hier?", wundert Milet sich. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. So etwas Angsteinflößendes, Unheimliches, Abstraktes, Unwirkliches habe ich noch nie gesehen.

"Das sind die Außenbezirke von Triest", brummt Carik: "Seid wachsam." Leichter gesagt als getan in der einsetzenden Dämmerung.

"Wieso sind hier keine Wachen, Soldaten, Polizisten?", möchte Aran wissen.

"Du dachtest, Hügelbach wäre unorganisiert, unordentlich, anführerlos? - Na dann heiße ich dich willkommen im Süden", begrüßt der Kommandant uns.

In diesem Moment lassen wir die kleine Gruppe Häuser hinter uns, erreichen die Kuppe eines Hügels. Unter uns breitet sich ein Meer von Gebäuden aus. Zerstört, unbewohnbar, nur noch leere Hüllen. Nur vereinzelt flackern Lichter in einigen Gebieten der Stadt.

"Und das soll ein Staat sein?", schnaube ich.

"Nein, aber das, was am nächsten darankommt. Es gibt hier keine Einheit, nur viele einzelne Gruppen, die um die Vorherrschaft konkurrieren", erklärt Carik.

"Und in diesem Durcheinander sollen wir Rami finden?", hat Aran bereits jetzt aufgegeben.

 

"Rami! Lass mich endlich gehen!", tobt das Mädchen mit den roten Haaren.

"Tihana, du weißt nicht, was du da tust", versucht der Junge zu beschwichtigen.

"Oh, ich weiß genau, was ich da tue", entrüstet Tihana sich: "Der Einzige, der nicht verstehen will, bist du!" Sie stürmt aus dem Raum. Rami ihr hinterher.

 

"Wir brauchen ein Quartier für die Nacht", meine ich.

"Da stimme ich dir zu, aber wie gesagt, ist das hier Feindgebiet - wenn wir nicht vorsichtig sind, brauchen wir selbst bald Rettung", erinnert mein 'Zieh-Vater' mich.

"Wieso kann Rami dann hier sein?", wundert Aran sich.

"Hat wahrscheinlich Freunde hier…", murmle ich.

Der Regen flaut allmählich ab.

 

"Was erzählst du da für einen Blödsinn?", schreit Rami.

"Die Wahrheit!", kreischt Tihana zurück.

"Hör dir doch einmal zu", äfft Rami sie nach: "Der Kommandant des V-Kommandos ist mein bester Freund, er und sein Adoptivsohn, der mich liebt, werden mir helfen, Naan aus dem Gefängnis des Staates zu befreien, aus dem noch nie jemand entkommen ist."

Eine einzelne, schallende Ohrfeige hallt durch das Gebäude.

 

"Also sollten wir uns verstecken?", fragt Milet. Im nächsten Augenblick biegt Carik von der Straße ab und fährt einen Hügel hinauf, hinein in ein kleines Wäldchen. Laut knackend brechen die Zweige unter den Reifen des Wagens.

Dann halten wir.

"So, das sieht gut aus", meint Carik, steigt aus.

Wir spannen einen niedrigen Elektrozaun mit Bewegungsmelder um den Wagen auf - niemand kommt unbemerkt zu unserem Fahrzeug - und steigen dann mit den Zelten, Schlafsäcken und einigen Waffen noch ein Stück den Hügel hinauf.

 

Ich bin an der Reihe, Wache zu halten.

Tihana ist irgendwo dort unten - nur wo?

Sie streitet sich mit Rami - sie möchte weg von ihm. Aber er lässt sie nicht, ist überzeugt, der Staat hätte ihr eine Gehirnwäsche verpasst. - Aber all das hilft mir auch nicht weiter.

 

Ein Mädchen läuft durch die Straßen - alleine. Es ist dunkel um sie. Die Straßen schwarz und nass vom vergangen Regen, die Wolken über ihr verwehren ihr das helfende Licht des Mondes, geben ihr die Deckung der Schatten.

Ihr Verfolger trägt einen beginnenden Bluterguss auf der linken Wange - ist auch alleine.

"Tihana!"

Sie ignoriert seine Rufe. - Er holt auf. Zentimeter für Zentimeter.

Ihre Schritte hallen in der engen Gasse laut, verratend zurück.

"Tihana - nicht! Bleib stehen! - Wir sind hier nicht sicher!"

Sie kommen zu einem begrünten, weitläufigen Hügel - auf seiner Spitze eine Burg.

Rami hat sie eingeholt, wirft sich von hinten auf sie und sie zwei zusammen ins weiche, hohe Gras.

All ihr Strampeln, ihr Zerren, Sich-Winden hilft ihr nichts. - Rami drückt sie gnadenlos zu Boden - flüstert: "Still jetzt. Oder willst du umgebracht werden?"

Ihre Bewegungen erstarren, nur noch pure Angst spiegelt sich in ihren Augen.

"Triest ist kein Spielplatz. Vor allem nicht rund um den Schlossberg…"

Langsam nimmt er die Hand von ihrem Mund.

"Weg hier", haucht Rami, ergreift Tihanas Arm und sie sprinten los.

 

Ich setzte das Fernglas ab, wecke eilig die anderen. Ich weiß, wo die zwei sind. Und wir müssen schnell handeln, wir sind garantiert nicht die einzigen auf dem Weg zu ihnen…

 

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