Der Staat Kapitel 46

5. Mai 2062, 0:09, Nord-Dalmatien, Triest

 

In voller Fahrt rasen wir durch die leeren, dunklen Straßen der Stadt, die Scheinwerfer des Wagens als einzige Lichtquelle.

Aran gibt aus dem Kofferraum in schneller Reihenfolge die nötigsten Ausrüstungsteile nach vorne. Funkgerät, Helm, Schussweste, Pistolen.

 

Eilig, wissend, jede Sekunde zählt, statten wir uns aus, versuchen, die Westen in einem sich schnell und scharf bewegenden Fahrzeug anzulegen.

Carik lässt es gleich bleiben, er braucht beide Hände am Lenkrad.

 

Motorgeräusche. Sie kommen näher!

Rami zieht immer heftiger an ihrem Handgelenk.

Sie steigern mit jedem Schritt ihr Tempo.

 

"Wie hoch stehen unsere Chancen, ungestört wieder hier wegzukommen?", versucht Milet zwischen zwei Abzweigungen optimistisch zu klingen.

"Solange wir nicht anhalten…sehr hoch", knurrt Carik, reißt das Lenkrad herum: "Bemerkt hat man uns sicherlich schon", fügt der Kommandant an.

 

Der Mann hält zwei Drahtenden in den Händen - eines läuft zum Fenster hinaus, das andere zu einer Batterie.

 

"Nach links!", brülle ich in einem Tonfall, der meinen 'Zieh-Vater' zu sofortigem Handeln zwingt.

Trotzdem spüren wir die Schockwelle der Detonation.

"*", flucht Aran, rappelt sich auf, klettert über die Sitze zurück nach vorne, schnallt sich an, betastet kurz seinen linken Ellbogen und seinen Kopf.

"Dem stimme ich zu", unterstützt ihn sein Vater, behält seinen Bleifuß-Fahrstil bei, murmelt: "Das war knapp…gut erkannt Kris…"

 

Hinter der nächsten Kreuzung empfangen uns kleine, heftige Lichtblitze. Unzählige. Genausoviele, wie Projektile auf dem Wagen treffen und nutzlos abprallen.

Im ersten Moment geschockt fahre ich zusammen, ziehe den Kopf ein.

Doch Carik hält nicht an, rast einfach unbeeindruckt an den Banditen vorbei, denn der Schlosshügel ist in Sichtweite.

"Wo waren sie?", verlangt der Kommandant hart ohne langes Geschwafel zu erfahren.

"Da, bei diesen Büschen links vom Schotterweg", antworte ich wie gewünscht.

"Dann können sie eigentlich nur dieser Straße hier weiter gefolgt sein, es gibt keinen anderen Weg vom Hügel weg, außer zurück", schlussfolgert Milet aus einem hastigen Blick auf die Karte auf dem Bordtablet. Carik drosselt das Tempo leicht, aber nicht allzu signifikant.

"Wenn sie in eines der Häuser gerannt sind?", gibt Aran zu bedenken?

"Sind sie nicht", bestimme ich.

"Was macht dich da so sicher?", hakt mein 'Stiefbruder' nach.

"Es wäre doch viel zu gefährlich…", setzte ich an, werde jedoch vom ruhigen, sachlichen Kommentar des Kommandanten unterbrochen: "Da vorne laufen zwei Jugendliche."

 

"Kris, klettere zurück in den Kofferraum, hol die zwei rein!", befiehlt Carik.

Abschnallen, umdrehen, über die Sitze und die Heckklappe von innen öffnen.

Lautes Rauschen von Reifen auf nassem Asphalt schwappt in den Wagen.

Der Kommandant fährt das Tempo zurück.

Langsam rollen wir an Tihana und Rami vorbei, welche erschrocken zur Seite in einen schützenden Hauseingang hechten.

"Los, rein!", brülle ich ihnen entgegen, strecke meine Hand aus.

Es dauert einige Momente, bis mich das Mädchen mit den roten Haaren im schummrigen Licht der Innenbeleuchtung des Fahrzeugs erkennt, dann gibt es kein Halten mehr für sie - Rami hinterher.

"Und jetzt nichts wie weg hier!", sind meine abschließenden Worte, bevor Carik das allerletzte bisschen Geschwindigkeit aus dem Wagen herausholt, das irgendwie machbar ist, und Rami, Tihana und ich gegen die wieder geschlossene Kofferraumtür gedrückt werden.

 

Tihana rappelt sich auf, starrt die Handschellen an Ramis Händen an, welche ich ihm gerade anlege, ohne auf Widerstand zu treffen.

"Kris? - Ist das nötig?", will sie wissen. Irritation, Erstaunen, Ablehnung - und etwas nicht näher bestimmbares, definitiv Negatives schwingt in ihrer Stimme mit.

"Er hat mich betäubt und dich entführt", erinnere ich sie: "Ich für meinen Teil habe vor, ihn von weiteren Dummheiten abzuhalten, solange es mir möglich ist."

"Aber…er…das", setzt sie an, weiß, ich habe Recht, erträgt trotzdem den Anblick ihres alten Bekannten in Handschellen nicht und fährt mich unvermutet an: "Kris! - Nimm sie runter!"

"Tihana!", kommt es sofort von Carik zurück: "Benimm dich! Und sei ruhig!"

Zerrissen zwischen Pflicht, Verlangen nach Sicherheit, Zuneigung zu Tihana, Nicht-ertragen-können-sie-unglücklich-zu-sehen und Hass - oder doch Angst gegenüber Rami verkrieche ich mich in die gegenüberliegende Ecke von ihm. Verdattert verbleibt meine Freundin mitten zwischen uns im Schneidersitz, zieht die Schultern hoch und den Kopf ein, doch schon nach wenigen Sekunden erträgt sie die Situation nicht mehr und presst sich in die dritte Ecke des Kofferraumes - die Haare als Vorhang vor ihrem gesenkten Gesicht, dessen Ausdruck mich gerade mehr als alles andere Erdenkliche interessiert.

 

Ein seit Jahrzehnten verlassenes Dorf wird uns zum Unterschlupf für den Rest der Nacht.

Sie alle schlafen friedlich, wieder einmal bin ich mit Wache schieben dran. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich kein Auge zutun: Da ist etwas, das mich beschäftigt, so sehr, wie noch nie etwas.

Vorsichtig schleiche ich hinüber zu Rami, öffne die Fußschellen und ziehe ihn hoch. Erschrocken reißt er die Augen auf, erblickt mich, weicht unwillkürlich zurück, starrt mich entgeistert an.

"Sei still", zische ich scharf: "Ich muss mit dir reden." Mit diesen Worten führe ich ihn nach draußen, in die kühle Luft des noch sehr, sehr jungen Tages. Weg vom Haus, zwei Seitenstraßen, hinaus aus dem Ort, hinein, in den Wald, einen Hügel hinauf.

Nach einigen Minuten meine ich, weit genug marschiert zu sein, um ungestört zu bleiben. - Jedoch nicht zu weit, dass ich nicht auch ein Auge auf unser Quartier haben könnte. Wir setzten uns gegenüber auf den Waldboden.

"Rami Geretor", setzte ich an, er hebt den Kopf, schaut mir mit seinen müden, erschöpften braunen Augen, zwischen seinen längeren, lose fliegenden braunen Haaren hindurch, in meine.

"Kannst du mir erklären, was dich zu deinen Taten bewogen hat?", verlange ich beherrscht zu erfahren.

Stille. Sonst nichts. Einfach nur Stille.

"Wieso betäubst du mich, entführst Tihana und bringst sie so weit nach Süden, in ein gefährliches Land, wo ihr wer-weiß-was-alles zustoßen hätte können?", presse ich bemüht ruhig zwischen den Zähnen hindurch.

Stille. Sonst nichts. Nur weiterhin seine braunen Augen auf mich fixiert.

"Was habe ich dir getan, dass du mir so etwas antun musst - mir meine Freundin, meine Schwester raubst?!", kann ich mich gerade noch so kontrollieren, hebe unbewusst und ungewollt die Stimme.

Stille. Er senkt den Blick.

 

Minuten vergehen, ohne ein Wort, nur ein stummer Blickkontakt ohne Aussage als einzige Kommunikation zwischen Rami und mir. Tief atme ich viele Male durch, Bauch auf - und ab - beruhige mich.

"Wenn du sie wirklich lieben solltest", versuche ich es ein letztes Mal vollkommen rational: "dann hättest du nicht getan, was du tatest. Du hast sie in große Gefahr und dich in verdammte Schwierigkeiten gebracht."

Plötzlich kann Rami sich nicht mehr halten und brüllt los, weint, brüllt weiter, wischt sich die Tränen weg, kämpft gegen seine brechende Stimme, schreit weiter - schreit davon, was ich mir einbilde, wer ich denke, dass ich bin, so über Tihana bestimmen zu wollen, wie wir dazu kommen, zu denken, Tihana würde bei uns sein wollen, dass sie gerettet werden wollte, wieso wir meinen, alles am besten zu wissen, alles bestimmen zu können, immer Recht zu haben, wieso diese Welt so furchtbar gemein, einseitig sei, warum wir annehmen, Pannonien wäre einverstanden mit dem, was wir tun.

Dann stoppt der Fluss seiner Worte plötzlich und unvermittelt, als wäre er auf eine Betonwand geprallt und verebbt. Er legt die Hände zurück in den Schoß und sucht meinen Blick.

 

Stille umgibt mich. Absolute, tiefe, erkenntnisreiche Stille. Sonst nichts.

 

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