5. Mai 2062, 19:37, Pannonien, Hügelbach
"So, da wären wir wieder…", biegt Carik in unsere Zielstraße ein und hält vor dem Hauptgebäude Hügelbachs. Dann dreht er sich um, blickt Rami tief in die Augen und schärft ihm ein: "Hier ist Endstation für dich." Rami nickt und verlässt den Wagen, meidet tunlichst meinen und Tihanas Blick.
Wir fahren wieder an und sehen eine im Rückspiegel immer kleiner werdende Gestalt einsam und alleine vor dem Hauptgebäude zurückbleiben, die uns noch lange stumm und regungslos nachblickt.
"Da wir das jetzt hätten…", murmelt der Kommandant und funkt die Polizei an: "Wenn Sie jetzt bitte das Ehepaar Geretor festnehmen würden."
"Geht klar."
Carik beendet das Gespräch.
Ramis Eltern werden verhaftet, wegen Falschaussage - das war klar, seit wir die ganze Geschichte von Julian gehört haben. Julian…
"Halt", schieße ich entschieden heraus: "Wir dürfen Ramis Vater und Mutter nicht einsperren!"
"Was sagst du da?", fahren mich Aran, sein Vater und Milet gleichzeitig an. Tihana hält ihren Mund, schaut mich nur an - ihre Augen…verwundert, überrascht und irgendwie auch froh.
Im ersten Moment zucke ich ob ihrer harschen Reaktion kurz zusammen, fange mich schnell wieder und hänge bestimmt an: "Wir mussten Julian versprechen, Rami unter keinen Umständen für seine Taten zu bestrafen. - Seine Eltern zu verhaften ist doch genau das. - Und ohne Julian hätten wir Tihana und ihn nie gefunden!"
Carik wählt erneut.
Der Kommandant lässt den Wagen gemächlich ausrollen, bis wir vor dem Quartier des V-Kommandos im Vorort zu stehen kommen - direkt neben einem V-Kommando-Fahrzeug, das sich in einem ganz speziell wesentlichen Merkmal von den anderen unterscheidet: es ist in einem vollkommenen, reinen, im letzten Licht der Sonne schimmernden Mitternachtsschwarz lackiert.
Und Cariks einzige Reaktion darauf ist ein einsames, die Stille im Wagen durchbrechendes Ausatmen.
"Was ist?", wage ich es gerade so zu fragen.
Der Kommandant schüttelt nur ratlos den Kopf, haucht dann sichtlich schockiert: "Ich weiß es nicht…"
Schweigend, bedrückt, mit hochgezogenen Schultern entladen wir das Fahrzeug und bringen die Ausrüstung ins Lager, unser Gepäck und uns selbst auf die Zimmer und fallen ohne langes Zögern in einen langen, erholsamen, schwer benötigten Schlaf.
Um exakt sieben Uhr einunddreißig werde ich von Milet aus dem letzten bisschen Schlaf gerüttelt, das mir geblieben ist, nachdem Carik die Tür hinter sich wieder geschlossen hat.
"Wir müssen in zehn Minuten fertig angezogen im Besprechungsraum auftauchen", gibt er die Nachricht weiter: "Keine - Sekunde - später."
Decke zurückschlagen, die kühle Luft auf dem freien Oberkörper spüren, Augen zupressen, aufreißen, Kopf kräftig schütteln, Bauch anspannen, aufrichten.
Katzenwäsche, Gesicht bespritzen, Zähneputzen, Uniform anlegen, Stiefel schnüren.
"Noch eine Minute", warnt mich Milet. Die Treppe runterpoltern und versuchen, die Haare glatt zu streichen.
"Ah", hellt sich das Gesicht des Sonnenbrillenmannes - Barid - auf, als Milet und ich in dem Raum stürmen: "Jetzt sind endlich alle da." Er lächelt uns zwei an, deutet auf die Stühle vor dem Rednerpult: "Bitte, setzen Sie sich."
Wir nehmen also unter Carik, Aran und all den anderen anwesenden V-Kommando Mitgliedern Platz.
Barid stellt sich ans Pult, lässt die Schlösser seines Koffers aufschnappen, öffnet ihn, entnimmt einen silbrigen Speicher-Stick und steckt ihn in den Projektor.
"Der Präsident hat einige Worte an das V-Kommando zu richten", erläutert Barid freundlich, langsam, bedächtig: "Es handelt sich um eine Videoaufzeichnung, da man nicht wusste, wann Sie vier denn von ihrer Expedition zurückkommen würden." Damit meint der Sonnenbrillenmann natürlich Carik, Aran, Milet und mich.
Das Video startet mit dem Mantra des Staates, gesprochen vom Präsidenten, einem alten Mann, wahrscheinlich mindestens sechzig, fünfundsechzig, seine Haare schon vollkommen ergraut und schütter, seine Wangen gefüllt von Sorgenfalten und alles, das nicht von endlosen Rückschlägen und Trauer in seinem Leben zeugt, sind seine Augen, der einzige junge, wache Punkt in seinem Gesicht, seine grauen Augen mit dem Hauch blau und grün darin:
"Der Staat, der Eine und Einzige.
Hier ist euer Glück, hier ist eure Zukunft.
Gemeinsam für alle, alle für die Gemeinsamkeit!", hier legt er eine kurze Pause ein, atmet einmal tief durch und fährt fort: "Der Staat wurde gegründet, um des Friedens willen, doch dieser ist heute nicht mehr gewährleistet. Es gibt viel zu viele, die sich unserer Idee in den Weg stellen und diese Personen müssen entfernt werden - um jeden Preis. Tun Sie, werte Mitglieder des V-Kommandos, was getan werden muss. Tun Sie es jetzt, bevor es zu spät ist.
Für den Frieden, für den Staat, für die Menschheit!", fordert er uns inbrünstig auf, hält dann kurz inne, schließt die Augen für einen Moment, richtet anschließend seinen Blick direkt in die Kamera, haucht fest, bestimmt bittend: "Für die Vernunft."
Seine Worte stoppen, das Bild wird schwarz.
Barid tritt wieder nach vorne: "Diese Worte betreffen ganz besonders Sie, Herr Kommandant", blickt er Carik direkt, vielsagend an.
Verstummt sitze ich da, fühle nur die leichte Polsterung des Stuhls unter mir, versuche mich auf meinen Atem zu konzentrieren, ruhig ein und aus. - Der Präsident will, dass wir uns aller ungehorsamen Pannonier entledigen!
"Das…", versucht Tihana irgendetwas zu sagen, bringt jedoch nichts zustande. Ich meinerseits habe auch keine Worte, beschließe, es nicht mit der Sprache, sondern mit etwas viele Male Ausdrucksstärkerem zu versuchen: Vorsichtig am Anfang lege ich einen Arm um Tihanas Schulter. Als sie nichts tut, außer weiter leer vor sich auf den Boden zu starren, rutsche ich dicht an sie, lege meinen zweiten Arm um sie und wünsche mir, ich könnte ihr irgendwie mehr Halt geben, als es eine Umarmung vermag.
Plötzlich fühle ich, wie sie sich an mich schmiegt, eine Hand auf meinen Arm legt und etwas ruhiger ausatmet.
"Mittagessen", bricht Milet ins Zimmer herein, schreckt Tihana und mich hoch, die wir zwei gedankenversunken auf der Bettkante gesessen sind.
Froh, an etwas anderes denken zu können, als immer nur über die Botschaft des Präsidenten nachzusinnen, erhebt sich meine 'Stief-Schwester': "Kommst du auch?"
"Sofort", murmle ich, starre weiter den einen, kleinen, schwarzen Punkt an der Decke über mir an.
Zum sicher über hundertsten Mal spielt sich in meinem Kopf die Nachricht des Präsidenten erneut ab.
Wieder bleibe ich an seinen letzten drei Worten hängen. Für die Vernunft…
Vernunft…
Irgendwie kommt es mir eigenartig vor, dass sich der Präsident in seiner Rede nie direkt auf die Pannonier bezogen hat. Kann es sein, dass er uns etwas anderes sagen will? - Oder ist es nur mein Unterbewusstsein, welches irgendein Schlupfloch aus diesem Dilemma sucht, sich an den letzten Strohhalm klammert?
Vernunft.
Was heißt es, vernünftig zu sein?
Es heißt, die Situation genau abzuschätzen, und zu erwägen, welche Auswirkungen die eigenen Handlungen auf die Zukunft haben werden.
Vernunft.
Was passiert, wenn wir beginnen, jene Pannonier, die den Staat ablehnen, zu verhaften?
Die anderen werden dagegen protestieren, sich auflehnen.
Für den Frieden, für den Staat, für die Menschheit…
Für den Frieden…
Der Präsident will und mitteilen, dass die Pannonier gerade NICHT unser Ziel sind!!!! Ich schieße hoch. Dann streckt mich die Erkenntnis nieder.
Es ist das Parlament, der Große Boss, Barid, sie alle… - Alle, die keinen Frieden wollen, nur ihre Macht vergrößert sehen möchten.
Kommentare und Anregungen sind immer gerne gesehen.
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