Der Staat Kapitel 48

6. Mai 2062, 13:01, Pannonien, Vorort

 

Hastig stehe ich auf, überschlage mich fast, als ich versuche, nach meinen Stiefel zu greifen, obwohl ich noch nicht einmal richtig hochgekommen bin und lande unsanft auf dem Boden, rapple mich eilig wieder hoch.

Ich muss zu Carik! - Ich muss ihm sagen, was ich herausgefunden habe! - Wir müssen in den Staat!

und…und dann?

Wie sollen wir das Parlament davon überzeugen, dass sie einen Fehler machen - das Grundideal des Staates missachten, wenn sie die Pannonier angreifen? - Sie werden nicht auf uns hören…

Aber! wer auf mich hören wird, ist Carik! - Und er ist Kommandant des V-Kommandos. Er kann die Menschen überzeugen, sich uns anzuschließen!

 

"Carik!", rufe ich nach ihm und stürme im Zick-Zack zwischen den Männern, Frauen und Wägen des V-Kommandos hindurch.

"Kris?", kommt es fragend hinter einem Stapel Kisten hervor. Keine halbe Sekunde später stehe ich vor ihm, werde von überraschten, irritierten Gesichtern empfangen, keuche: "Ich…muss mit dir reden…"

"Kris?", fragt mein 'Zieh-Vater' verwirrt nach, sucht Augenkontakt, sorgt sich: "Ist etwas passiert?"

"Ja…nein…", stammle ich, finde die Worte, nach denen ich suche: "Noch nicht - aber bald."

"Was ist los?", macht der Kommandant einen Schritt auf mich zu, während die vier Umstehenden nervös von einem Fuß auf den anderen steigen beziehungsweise sich fehl am Platz vorkommen. Mit einer Handbewegung bedeutet Carik ihnen, zu gehen und kommt noch einen Schritt auf mich zu, sodass er nun direkt vor mir steht.

"Nicht hier…", murmle ich eindringlich, gerade so laut, dass der Kommandant die Wichtigkeit erkennt, die anderen es aber nicht verstehen können.

"Okay…wenn du meinst…", zuckt er mit den Schultern und folgt mir weg von den Vorbereitungen, der Hauptstraße, dem Quartier hin in eine stille Seitenstraße, gesäumt nur von fest verschlossenen Fenstern und Mülltonnen.

"Also, was gibt es?", möchte mein 'Zieh-Vater' nun endlich erfahren - verständnisvoll, trotzdem etwas ungeduldig.

"Es…ist schwer zu sagen…",stottere ich, besinne mich, richte mich zu voller Größe auf, schaue ihm direkt in seine blaugrauen Augen und frage: "Findest du, es ist richtig, die Pannonier zu unterdrücken?"

Hätte der Strom Gefühle auf seinem Gesicht eine reale Kraft, ich würde wohl weggespült und erdrückt werden…

Dann zwingt er sich zu einer eisernen Maske - dann ist es für lange, zähe Momente still, während Carik mit sich selbst kämpft.

Gerne würde ich mit Worten versuchen, ihn in die richtige Richtung zu stoßen, doch hält mich mein Gefühl zurück, sagt mir, den Mund zu halten, weiter seinen Blick zu suchen, sei gerade das Beste.

Trotz der Disziplin des Kommandanten dringen Regungen zu Tage: ein, für den Bruchteil einer Sekunde, verzogener Mundwinkel, gejagt springende Augen, ein Anspannen der Halsmuskeln, ein zuckender Finger.

Bis zum Ende versucht er den Anschein zu geben, über meine Frage nachzudenken, während er doch in Wahrheit nur meine wahre Haltung in dieser Sache abschätzen will. Und ich meine, diese ist recht offensichtlich.

Plötzlich fährt er sich mit einem 'Jetzt-oder-nie'-Seufzer mit beiden Händen übers Gesicht, mustert mich von Kopf bis Fuß und fragt zugleich dankbar, glücklich und berechnend: "Okay, wie lautet dein Plan?"

"Ahm…", druckse ich. So genau habe ich mir das jetzt auch wieder nicht überlegt…

"Wir müssen in den Staat und diese Sache ein für alle Mal beenden", meißle ich dann endlich in Stein.

"Du willst…", überlegt Carik, kennt die Antwort vermutlich schon.

"Das Parlament entmachten", vollende ich seinen Satz.

 

Am nächsten Morgen stehen wir früh auf, legen uns rasch unsere Kleidung an, laden in die Fahrzeuge, was noch nicht verladen wurde und brechen auf. Sechs Fahrzeuge mit je sechs Insassen.

Am Nordtor hält uns eine irritierte Wache an: "Funktioniert der Kompass nicht? - Sie müssen doch nach Süden…"

Darauf antwortet Carik nur: "Alles in Ordnung. Die Operation wurde um einige Tage verschoben."

Kaum sind wir durch das Tor, erhalten wir einen Anruf.

Barids geschliffene, eiskalte Stimme dringt aus dem Lautsprecher: "Herr Kommandant, das ist die falsche Richtung."

"Nein, es ist die richtige. Ich muss nämlich mit meinem Vater sprechen", spielt Carik unbeeindruckt zurück. Carik Flammenwolfs Vater, der Präsident des Staates, Arik, einst der Anführer der Großen Acht, Gründer des Staates. Er muss jahrelang auf den rechten Moment gewartet haben, das Parlament zu stürzen, welches ihm wohl nur sehr wenig Handlungsfreiheit gelassen hat, und hat jetzt alles auf eine Karte gesetzt um sein Projekt des Staates, ein Land des Friedens und des Wohlstandes, nicht an der Machtgier der Menschen scheitern zu sehen. - So zumindest erkläre ich mir das Vorgehen des Präsidenten.

"Mit Ihrem Vater. Soso", man hört Barids böses, sanftes Lächeln und kann es sich so bildhaft vorstellen, als würde er höchst selbst von einem stehen: "Das wird dem Parlament aber nicht gefallen." Damit will er wohl eigentlich sagen: 'Wenn Sie Ihren Posten behalten wollen, tun Sie, was Ihnen befohlen wurde.'

Mein 'Zieh-Vater' legt einfach auf.

"Papa", kommt es vorsichtig von Aran: "Ist das, was wir gerade tun und vorhaben nicht äußerst unvernünftig."

"Nein, mein Sohn. - Alles, außer dem, was wir gerade tun und vorhaben, wäre äußerst unvernünftig", wiederholt und verneint der Kommandant die Worte seines Kindes.

 

Die Wachen am Grenzübergang lassen uns passieren, aber trennen unser Fahrzeug von den restlichen fünf und eskortieren und mit zwei ihrer eigenen direkt zum Parlamentsgebäude, mitten im Herzen von Wien - innerhalb der ersten Ringstraße.

"Einfach ruhig bleiben", haucht Carik bestimmt. Direkt vor dem Haupteingang halten wir an. Soldaten öffnen die Türen des Wagens, geleiten uns durch dunkel getönte Glastüren ins riesige, pompöse Foyer des Gebäudes. Ein immens großer Saal öffnet sich uns, der Boden bedeckt mit weichem, roten Teppich, die Wände verziert mit Gold und Gipsarbeiten rund um Statuen in Nischen, eine breite Treppe aus weißem Stein mit schwarzen Flecken darin, die in die obere Etage führt, alles beleuchtet in einem weichen, gelblichen Licht.

Aran, Milet, Tihana und ich stehen einfach nur fassungslos da. Dass es so etwas im Staat gibt, habe ich nicht gewusst - bis jetzt. Es ist so…vollkommen anders als der Rest, aber wieso?

"Hier entlang bitte", bedeutet uns eine der Wachen durch eine der unzähligen Türen zu gehen, bleibt selbst aber zurück: "Er wartet auf Sie." Carik öffnet befehlend den Mund zum Wiederspruch: "Ich - will - zum - Präsidenten."

Vom Wachmann kommt nur ein Einfaches: "Gehen Sie jetzt einfach dorthin", zurück, welches aber so viel bedeutet wie: 'Das-interessiert-hier-niemanden.'

Uns unwohl fühlend drängen wir vier uns ihm hinterher durch den Eingang.

Wir kommen in einen langen Flur, der nicht minder schön verziert ist. Am anderen Ende befindet sich eine einzelne, einsame Tür.

"Überlasst mir das Reden", weist Carik uns an: "Ihr kennt den Mann bereits, den wir gleicht treffen werden: der Große Boss, wie man ihn nennt. Zuständig für Ausbildung der V-Kommandoschüler, Mitglied im Parlament und gut befreundet mit Barid.

 

"Sie sind also offensichtlich gescheitert. Genau, wie ich es Ihnen prophezeit habe", begrüßt der Große Boss Carik, beachtet uns vier Jugendliche nicht einmal, hebt seinen beleibten Körper von dem weichen Lederstuhl, auf dem er gerade gesessen ist und kommt um seinen Schreibtisch herum auf den Kommandanten zu, baut sich vor ihm auf, fährt fort: "Und nicht nur das, Sie sind diesem Wahnsinn auch noch selbst anheimgefallen." Was mich wundert ist, dass seine Worte noch immer ruhig, beherrscht und freundlich warm, fast onkelhaft klingen, obwohl er das ganz sicher im Inneren nicht ist.

"Gescheitert bin nicht ich, sondern Sie", ist alles, was Carik berechnend antworten will und muss.

"Noch ist es nicht zu spät", setzt der Große Boss erneut an: "Noch haben Sie die Chance, zu gehen und Ihren Job zu tun. Noch können Sie diesen Schlamassel beseitigen, in welches Sie sich selbst und den gesamten Staat gebracht haben."

"Wenn Sie das meinen…", gibt Carik mit einem leichten, freudigen Zucker seiner Mundwinkel, im Sinne von 'Sie-missverstehen,-es-geht-gerade-erst-richtig-los', zurück.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0