Der Staat Kapitel 49

7. Mai 2062, 10:09, Staat, Parlament

 

"Ja! Das meine ich!", braust der Große Boss so unerwartet auf, dass Milet, Aran, Tihana und ich zusammenzucken und Carik zu einem Rückwärtsschritt ansetzt, sich gerade aber noch beherrschen kann. Die Augen des Mannes vor uns verengen sich und er lehnt sich leicht nach vorne auf seine Zehenspitzen, spreizt die gestreckten Arme etwas zur Seite hin ab. - Seine gesamte Körpersprache brüllt uns nur so entgegen: Angriff, Aggression.

Niemand weiß, was er sagen soll. Und in etwa so schnell, wie sein Ausbruch gekommen ist, erinnert sich der Große Boss an sein Verhalten und kehrt unverzüglich zurück, zu seiner vorherigen, freundlichen, einladenden Körperhaltung. Und trotz der Tatsache, dass er der ganzen Sache den Anschein geben möchte, es sei nichts, aber auch gar nichts geschehen, verbleiben wir in einer bedrückenden, unangenehmen Stille.

"Hach", atmet der Große Boss schließlich hörbar aus und pflanzt sich erneut hinter seinen Schreibtisch, fährt sich mit der Hand übers Gesicht, murmelt: "Ich dachte nicht, dass ich es jemals erleben sollte, einen der unseren uns verraten zu sehen…"

Dann läuft die Welt mit einem Schlag wie in Zeitlupe vor mir ab.

Der dickliche Mann hebt die Hand, fährt zu einem roten Knopf auf einem kleinen Schaltpult auf seinem Tisch.

Bilder blitzen auf, verschwommen, auf das Zentrum fokussiert, die Ränder in Schlieren.

Männer stürmen ins Foyer. Es sind Polizisten, Soldaten. Ihre Waffen im Anschlag stürmen sie den langen Flur entlang. Dann bricht die Tür aus den Angeln. Ein Mann lächelt zufrieden. Der andere wird zu Boden gedrückt, die Jugendlichen mit ihm.

Unbewusst knicke ich in den Knien ein. Verfolge mit den Augen die Wurstfinger des Großen Bosses auf ihrem Weg zum Knopf.

Schnell! - Ich muss handeln!

Und mit einer einzigen, flüssigen Bewegung schlage ich nach der Hand, die uns allen Verhängnis bringen wollte.

Als würde ich einen angehaltenen Film weiter abspielen, kehrt die Geschwindigkeit zurück in die Zeit.

Entgeistert blickt der Große Boss auf, hält sich die Hand, setzt zu einem brachialen Tsunami der Worte an: "WAS UM ALLES…", dann hebt er seinen Blick.

Und irgendetwas stoppt diese Sintflut der Wut - man sieht förmlich seine Muskeln erschlaffen, die ihn gerade erneut aus seinem Stuhl hochkatapultieren sollten. Irgendetwas hält ihn zurück - irgendetwas an mir…

Wie aus weiter Ferne höre ich meine eigene Stimme den Büroraum ausfüllen. Nicht laut, oder gar wütend. Nein, einfach nur…mächtig, durchdringend, widerstandszerschmetternd: "Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, dass wir nicht vorhaben, irgendetwas zu zerstören, sondern den Staat vor einer großen Dummheit bewahren wollen. Ihr Handeln hat gerade in Gefahr gebracht, was durch über vierzig Jahre Arbeit aufgebaut wurde, nämlich eine sichere Heimat. Hätten sie diesen Knopf gedrückt, wären wir verhaftet worden. Dann hätte niemand mehr den von Ihnen angeordneten Krieg mit Pannonien aufhalten können. Und jetzt überlegen Sie bitte, was in einem solchen Fall aus unserer sicheren Heimat geworden wäre." Und meine Worte sind nicht einfach nur so dahingesagt, nein, sie scheinen in dem Mann in seinem weichen Prunkstuhl etwas aufzuwecken. - Zumindest lässt ihn der Gedanke an die Zeit vor dem Staat nicht vollkommen kalt.

Irgendwie schafft er es, seinen Blick von mir zu lösen, bekommt seinen Mund auf, versucht Worte mit seinen Lippen zu formen, scheitert jedoch daran.

Der Große Boss sinkt noch weiter zusammen, rutscht sogar ein wenig in seinem Stuhl hinunter, während seine Augen die Kante seines Schreibtisches fixieren.

"Sie wissen, dass es falsch ist, was Sie und das Parlament von Carik verlangen", stelle ich fest - hoffe mehr, als dass ich mir sicher bin.

"Ist es uns nun gestattet, den Präsidenten zu sehen?", wiederhole ich vorsichtig bestimmt unsere Forderung.

"Nein!", schießt der Große Boss hervor, schüttelt sich aus seiner Trance, doch sofort erlischt das kurz aufgeflackerte Feuer in seinen Augen erneut und er murmelt noch schwach: "Nein…das…geht nicht…"

"Wo ist er?", frage ich leise, ruhig, ohne jeglichen aggressiven Unterton.

"…im Sitzungssaal…", kommt es leise zurück.

Carik geht voran, die Wachen halten uns diesmal nicht mehr auf, wirken aber so, als wüssten sie nicht recht, was tun, eskortieren uns deshalb.

 

"…und deshalb sage ich, es muss endlich etwas geschehen!", vernehme ich eine lautstarke Stimme durch die Tür dringen, welche wenige Momente später von einer Wache vor uns geöffnet wird, lautlos aufschwingt und wir so dem Rest der Rede des jungen Mannes von etwa dreißig Jahren folgen können, während wir in den halbkreisförmigen Saal voller Stühle mit einem Rednerpult in der Mitte treten: "Es ist außerdem unumgänglich, diesen Carik Flammenwolf durch eine kompetentere Person zu ersetzten. - Ich - wir - meine Kollegen und ich meinen, es ist nicht geeignet für diesen Posten. Er hat einen klaren Befehl bekommen und führt diesen nun nicht aus."

Beifall. - Noch hat uns niemand bemerkt, die wir im Schatten einer Galerie direkt über dem Eingang stehen geblieben sind.

Das war dann wohl das Stichwort des Kommandanten, der nun feierlich die Stimme erhebt und nach vorne tritt: "Ich glaube, verehrter Abgeordneter Wagner, Sie haben etwas an meinem Befehl nicht ganz verstanden", Carik kommt beim Rednerpult an und bedeutet dem verdatterten Herrn Wagner, Platz zu nehmen, was dieser tatsächlich tut, richtet sich das Mikrofon. Hinter dem Pult an der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein erhöhter Tisch mit einer einzelnen Person dahinter. Graue Haare, schwarzer Anzug, hell leuchtende graublaue Augen mit diesem Hauch grün darin. Und ein Lächeln zeichnet das Gesicht des Präsidenten, während sein zufriedener Blick auf seinem Sohn lastet, welcher nun ansetzt: "Es mag für Sie alle etwas eigenartig anmuten, mich so unerwartet hier im Plenarsaal erscheinen zu sehen. Das gebe ich zu, ist nicht der eleganteste aller Auftritte, aber was ich zu sagen habe, duldet keinerlei Aufschub." Er atmet tief durch, schließt noch einmal kurz die Augen, so als müsse er sich an seine vermutlich zurechtgelegten Worte erinnern, gibt dadurch Herrn Wagner die Chance zum Wiederspruch von seinem Sitzplatz aus, wozu er sich erhebt: "Herr Flammenwolf! Sie mögen der Sohn des Präsidenten sein, doch dies berechtig Sie noch lange nicht, eine wichtige Sitzung des Parlaments derart zu stören und damit die reibungslose Funktion unseres Staates zu behindern!" Jetzt wartet Wagner auf eine Antwort. Gemurmel zieht durch die Reihen. Es klingt nicht besonders freundlich bezogen auf den Kommandanten.

"Bitte, lassen Sie mich erst ausreden", geht Carik auf den Herrn ein, erklärt anschließend vollkommen sachlich: "Ich werde nicht länger als fünf Minuten Ihrer kostbaren Zeit stehlen. - Nun denn", startet er, als er sich der Aufmerksamkeit des gesamten Saals sicher ist: "Jeder von Ihnen hier weiß von den Befehlen, die an mich und meine Truppe übermittelt wurden. Nun, ich bin jetzt aus zwei Gründen hier: Erstens wäre da die Frage, was wir uns denn von einer solchen Aktion erhoffen. Zweitens: Sind wir uns sicher, dass dies der beste Weg ist? - Oder besser gesagt, würde eine derartige Operation nicht mehr zerstören, als sie jemals bringen könnte? - Wir sprechen hier immerhin von der Besetzung eines Drittlandes, eines freien Gebietes, dessen Grenzen und Gesetzte bis zum heutigen Tag vom Staat geachtet wurden - zum beiderseitigen Vorteil, möchte ich anfügen." Hier legt er eine kurze Pause ein, seinem Publikum Zeit zum Verarbeiten des Gesagten zu geben. Über hundert ausdrucklose Parlamentariermienen starren ihm entgegen, lockern nicht einmal die zusammengepressten Lippen.

"Also, was wir uns erhoffen können von einer vollkommenen Besetzung Pannoniens, wie sie es fordern, ist ein Partisanenkrieg, welcher sich bis in alle Ewigkeiten fortsetzten wird, im Endeffekt also unsägliches Leid und Unmengen an Tod. - Selbst wenn wir die landwirtschaftlichen Produktionsflächen unter unsere Kontrolle bringen sollten, haben wir noch immer niemanden, der über die nötige Erfahrung zu deren Bewirtschaftung verfügt." Erneut Pause, diesmal zum Durchschnaufen.

"Und bitte seien Sie mir jetzt nicht böse, wenn ich Sie alle nun an unsere ursprüngliche Verfassung erinnere. An die ersten Zeilen des Dokuments, welche das Grundrecht des Staates festschreiben. Wenn Sie mich zitieren lassen: 'Wien ist ein freier, eigenständiger Stadtstaat.' und zweiter Satz: 'Gegründet wurde dieser Staat, um den Frieden, das friedliche und glückliche Zusammenleben der Menschen unter Berücksichtigung von Nächstenliebe und Vernunft zu ermöglichen und ganz besonders Abstand von jeglichen kriegerischen oder gewalttätigen Akten zu nehmen." Pause. Stille. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden. Ein rundum zufriedenes, wohlwollendes Lächeln zeichnet sich auf dem Gesicht von Arik Flammenwolf ab.

Dann springt Wagner auf: "Wie können Sie es wagen?! Nicht nur, dass Sie eine Entscheidung des Präsidenten in Frage stellen, nein, Sie versuchen auch noch, das gesamte Parlament, inklusive des Präsidenten zu belehren!"

Einige murmeln Zustimmung. Viele jedoch halten einfach den Mund.

"Verehrter Herr Wagner, ich habe keineswegs die Intention, Sie zu unterrichten. Alles, was ich möchte, ist es, ein Problem aufzuzeigen und eine große Katastrophe zu verhindern. Und Sie stimmen mir wohl alle zu, wenn ich sage, ein Totalausfall der Nahrungsversorgung, sowie viele Tote auf beiden Seiten seien eine Katastrophe."

Wagner setzt sich, verschränkt die Arme, ruft nur noch resigniert: "Wache! Entfernen Sie diesen Mann!"

Doch die Wachleute zögern, machen einige Schritte unter der Galerie hervor, wo sie postiert wurden, in Richtung Rednerpult, halten aber bei Cariks nächsten Worten vollkommen an: "Kann ich wohl annehmen, dass Sie, Herr Wagner, eine der Personen sind, wegen denen der Friede nicht mehr gewährleistet ist? - wegen deren Handlungen und Intentionen die Idee des Staates in Gefahr ist?"

Herr Wagner setzt schon zu einem rücksichtslosen, verbalen Gegenangriff an, da lässt ihn eine herrischer Handbewegung des Präsidenten verstummen.

Carik richtet seine letzten Worte an die Menschenansammlung: "Sind Sie für den Staat, für Zusammenhalt, Sicherheit, Freundschaft, Zufriedenheit, Glück und Friede, oder stehen Sie für Krieg?"

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