12. Mai 2062, 8:01, Staat, 1. Ringstraße, Hauptplatz
"Verehrte Bürgerinnen und Bürger des Staates!", setzt Arik Flammenwolf, der Präsident und Gründer des Staates, Anführer der Großen Acht, die gemeinsam die Katastrophen im Jahre 2015 überlebt haben, feierlich an: "Die letzten Tage und Wochen waren eine äußerst turbulente Zeit. Im Staat ist viel geschehen, viel Neues wurde geschaffen und viel Altes wurde verworfen."
Er hält kurz inne. "Wir befinden uns am Beginn eines neuen Zeitalters für Wien, für den Staat, für uns alle." Der Präsident lässt die Aussage kurz wirken. "Begonnen hat unser Land ganz klein. Viele werden sich noch daran erinnern. Wir waren gebeutelt von einem zermürbenden Krieg, von Hunger und Angst getrieben, zerstreut durch die Kämpfe, die 'Vermummten', den Zerfall der damaligen Staaten und uneinig. Dann aber wurde der Staat gegründet und wir hatten wieder eine Heimat. Wir konnten uns neu organisieren, unsere Welt wieder neu errichten und zurück zu altem Glanz finden. Ein System wurde aufgebaut, die einfachsten, täglichen Abläufe wurden bis ins kleinste Detail durchgeplant, um den Menschen die Sorgen um ihr tägliches Vorankommen zu nehmen. Niemand sollte jemals aufstehen und nichts zu tun haben, jeder sollte die Sicherheit haben, dass er auch morgen etwas zu essen und anzuziehen hat. Weiters führten wir ein umfassendes Überwachungsnetzwerk, inklusive massivem Grenzschutz, ein, um frühzeitig feindlich Gesinnte und Unruhestifter zu erkennen und somit die Sicherheit vor Gewalt sicherzustellen. All das sollte uns allen ein harmonisches Zusammenleben ermöglichen. Am Ende des Tages sollte niemand bevorzugt werden, niemand außen vorgelassen. Um all das zu erreichen war und ist viel Organisationsarbeit und eine sehr stramme Planung notwendig. Über viele Jahre hinweg hat das überaus gut funktioniert und es gab nie Probleme. Dadurch konnten wir unsere Ideale hochhalten: Freiheit, Friede, Glück. - Jedoch…" Erneut stoppt er kurz. "…jedoch bedurfte es im letzten Jahrzehnt immer umfassenderen Regelungen und präziseren Vorgaben, da ansonsten dieses System irgendwann zusammengebrochen wäre. Stetig wuchs die Bevölkerung des Staates und somit die möglichen Störfaktoren wie Arbeitsunwilligkeit. Wir waren so geblendet von unserem Willen, den Staat zu erhalten, unseren Frieden, unsere Sicherheit zu bewahren, dass uns gar nicht bewusst war, wie weit wir eigentlich gegangen sind. Die Genauigkeit unserer Regeln und Gesetzte wurde von Tag zu Tag höher, die Einschränkung für jeden Einzelnen wuchsen ins Unermessliche - selbst die Berufswahl übernahm schließlich der Staat. Es war ein langsamer Prozess - schleichend, unbemerkt, bis es zu spät war. - Diese ganze Entwicklung gipfelte vor einigen Tagen in einem Parlamentsbeschluss, der befahl, Pannonien, ein Land außerhalb Wiens, zu besetzten, um die Nahrungsversorgung des Staates zu sichern. - Um es kurz zu machen, wir haben beinahe einen Krieg ausgelöst." Pause. Erstarrte Gesichter auf dem gesamten Platz. Der Präsident atmet nochmals tief durch, schluckt und spricht weiter. Leiser, bedächtiger als zuvor: "Jedoch stellte sich eine Gruppe von Jugendlichen, insbesondere einer von ihnen, gegen diesen Plan. Sie zeigten uns, dass unsere Überlegungen falsch waren, dass selbst die beste aller Regelungen niemals so gut sein wird, wie die Freiheit. Es ist also nur diesen vier Jugendlichen zu verdanken, dass ich heute hier oben stolz und zufrieden stehen darf und in all eure fröhlichen, erwartungsvollen Gesichter blicken darf. - Die vier Jugendlichen sind allesamt Schüler der dritten V-Klasse und ganz besondere Menschen. Hat man ihnen auch ursprünglich Gehorsam beigebracht, begehrten sie gegen die unsinnigen Befehle der letzten Zeit auf und ermöglichten es, dass der Staat sich seiner Fehler bewusst wurde und nun aufs Neue gestärkt in die Zukunft blicken kann! Mit Freiheit anstelle von endlosen Vorschriften!" Pause. Zeit zum Nachdenken, Durchdenken, Mitdenken. Tosender Applaus. Als er sich dann nach einer halben Ewigkeit endlich gelegt hat, fährt Arik fort: "Kris, Tihana, Milet und Aran - Kinder des Staates - die Generation des Friedens - haben für ihn gekämpft und gewonnen!" Applaus. "Kris! Tihana! Milet! Aran! Das ist eure Stunde. Das ist eure Zeit. Das ist eure Zukunft! Kommt her und lasst die Leute sehen, wer uns alle gerettet hat." Mit einer ausladenden Handbewegung deutet der Präsident auf die Masse von Menschen auf dem Hauptplatz. Wir vier steigen von hinten auf die Rednerbühne hinauf, spüren noch einen Moment lang die Hände unserer Eltern auf den Schultern, stellen uns in eine schöne Reihe neben Arik und blicken hinab auf die Leute, die frohen Gesichter, die lachenden, jubelnden Kinder - die Zukunft.
Ja, die letzten Tage waren durchaus turbulent.
Eine Delegation wurde nach Hügelbach entsandt, um die Basis der Beziehungen zwischen Pannonien und dem Staat neu zu regeln.
Jene Mitglieder des Parlaments, welche Teil dieser 'Wir-wollen-Krieg'-Fraktion waren, beziehungsweise ihre Fehler nicht eingestehen wollten, oder keine Reue gezeigt haben, sind fürs erste unter Hausarrest gestellt worden.
Der komplette Verwaltungs- und Sicherheitsapparat befindet sich im Umbau, um eine Grenzöffnung des Staates zu ermöglichen, die es erlauben soll, dass Personen und Güter einfacher von und nach Wien gebracht werden können.
Die V-Klassen werden aufgelöst und die in ihnen isolierten, besonderen Schüler, von denen man entweder fürchtete, sie könnten das System des Staates untergraben - so wie wir, oder deren Fähigkeiten man sich bedienen wollte, werden auf die übrigen Klassen aufgeteilt.
Polizei- und Militärpersonal, sowie die Anzahl an V-Kommandomitgliedern wird reduziert, dafür sollen nun auch Leute aus dem Staat in Pannonien arbeiten und umgekehrt.
Und die Liste der Veränderungen geht noch viel weiter.
Doch eine der wichtigsten, wohl auch jene erhoffte, welche erst den Anstoß für diesen ganzen Prozess geliefert hat, ist die Befreiung einer ganz bestimmten Person.
Und wie aufs Stichwort betreten in just diesem Moment der Kommandant des V-Kommandos, seit neuestem Vorsitzender des Parlaments und sein Bruder, Botschafter Pannoniens und ebenfalls Parlamentsmitglied die Rednerbühne.
Die Brüder Flammenwolf: Carik und Naan. Zwei ehemals getrennte Leben - Welten wieder vereint.
Kurz schweifen meine Gedanken ab an die Ehrengäste, welche auf der Tribüne hinter uns Platz genommen haben. Die großen Acht, angereist aus Pannonien, wo sie die letzten vierzig Jahre verstreut verbracht haben: Emi, Marco, Nathan, Alexandra, Julia, Nadine, Nevio und Arik, der sich jetzt noch zu ihnen gesellt. - Sie wirken irgendwie so erhaben, förmlich und doch haben sie ihre Herkunft nicht vergessen, muten noch immer menschlich und gefühlsvoll an - trotz allem, was sie zusammen durchgemacht haben.
Ich hoffe, Arik wir mir einmal ihre ganze Geschichte erzählen.
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